07 September, 2008

Identifikation eines Lesers

Früher war es üblich, dem gelangweilten oder schlaflosen Hotelgast eine Bibel nahezulegen. Heute befindet sich im Nachttisch mitunter ein Kriminalroman, wie zum Beweis, dass unsere Religion Unterhaltung heisst. So oder so, ich habe „The Talented Mr. Ripley” vorgefunden und mit großem Vergnügen ohne Anzuhalten durchgelesen, womit meine Frömmigkeit hoffentlich bewiesen wäre...

Was ich so berückend fand, war das mit spitzen Fingern bereitete Vergnügen der Identifikation. Obwohl uns Highsmith keinen Moment darüber im Zweifel lässt, dass Ripley ein Schwein ist, wollen wir mit ihm „Erfolg” haben - was immer das heissen mag im Kontext seiner kleinen Hölle. Die Einfühlung in diesen verblüffend „normalen” Soziopathen geht parallel zur Identifikation Ripleys mit Dikie, so dass wir gewissermassen eine Spiegelung unserer eigenen Aktivität erleben - und uns selbst verdächtig werden. Nicht zufällig erreichen Ripleys empathische Anstrengungen ihren Höhepunkt, NACHDEM er Dikie umgebracht hat... Einen effektiveren Diskurs über die Einfühlung als „Ausgeburt” unseres Narzismus' kann ich mir kaum denken. Auf diese Weise hat der Roman sehr viel mit dem Kino zu tun, wenn auch reichlich wenig mit seinen Verfilmungen, was sehr für die Autorin spricht, die ich Snob wegen Minghella & Co bisher nie gelesen habe.

1 Kommentar:

  1. Lieber Christoph,

    habe gerade mal wieder einen Blick in Deinen Blog geworfen und wie immer gern gelesen. Eine ähnlich infame Identifikationslektüre wie Du mit Mister Ripley erlebe ich gerade mit Littells “Die Wohlgesinnten.” Geschrieben als Memoiren eines SS-Offiziers, der an zahlreichen Juden-Erschießungen in der Ukraine mitgewirkt hat, auch hier mit der Absicht, den Leser mit dem Ich-Erzähler auf den Hügel zu stellen, während er die Hinrichtungen beaufsichtigt. Wer weiterliest unterwirft sich zwangsläufig den Gedankengängen, in denen die kalte Analyse des Grauens, der Wille, das Grauen als Grenzerfahrung durchzustehen und die Beschreibung der psychischen Folgen bei den Tätern so zusammengeführt werden, dass sich die Frage nach Tatzusammenhängen nicht mehr so einfach beantworten lässt: Es war, wie man weiß, falsch, aber man wollte wider schlimmes Erleben glauben, dass es richtig ist. Der Leser unterliegt dem Stockholm-Syndrom: Als immer mehr freiwilliger Gefangener des Autors tauscht er beim Weiterblättern die Seiten. Um seine eigene prekäre Lage vor sich zu verteidigen, wird er die Figur, dessen Sicht ihn so fasziniert, auch in ihren fiktiven Handlungen verteidigen. Das Unbehagen solcher Identifikationen können auch Filme verursachen. Letzte Woche habe ich den frühen Roland-Klick-Film Bübchen gesehen. Ein Mord an einem kleinen Kind passiert, der Zuschauer sieht das in großer Beiläufigkeit, aber er wird dadurch zum Zeugen. Es ist in dieser Geschichte konsequent, wenn am Ende niemand verurteilt wird. Diese Erlösung bleibt aus. Man kann sich hinterher vorwerfen: Das Unbehagen, als Zuschauer mitgemacht zu haben, war nicht stärker, als die Lust, dabei zu sein. Man hat in Gedanken gesündigt. Es bleibt jedoch die weniger moralische Feststellung, dass Fiktionen Versuchsspiele sind, bei denen die Frage, ob man das machen würde, was die Figuren tun, sich jederzeit lustvoll gestellt werden darf, ohne dass man sie mit Wirkung fürs “reale Leben” beantworten muss. Und das selbst bei Büchern wie “Die Wohlgesinnten,” wo die theoretische Faszination für das Grauen aus der Begeisterung für die Décadence-Literatur von Baudelaire bis Céline hergeleitet wird. Gerade die Beschreibung des herben Absturzes von literarisch angehauchter Theorie in eine blutige Praxis hilft hier innerhalb der Fiktion der Identifikation mit dem bösen Helden erheblich, der das Opfer seiner Versuchsspiele geworden ist. Ist man das nicht als Leser auch?

    Das nur als kleiner Randgedanke.

    Gruß

    Marcus

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