07 Dezember, 2024

(Wieder-) Gesehen [23]


SANSHO DAYO – EIN LEBEN OHNE FREIHEIT (Kenji Mizoguchi, Japan 1954)


Eine Welt in Auflösung: nach der Entlassung und Verbannung des Vaters, einem Gouverneur, dem man seine Milde im Umgang mit den Bauern zum Vorwurf macht, begeben sich Mutter, Amme und die beiden Kinder auf den Weg zum Haus des Großvaters. Nicht nur werden sie nie ankommen, sondern auch alles verlieren, was man verlieren kann: Freiheit, Hoffnung und einige auch ihr Leben. Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, und warum Mitgefühl die zentrale zivilisatorische Kraft ist, davon erzählt der Film auf unvergleichliche Weise. Danke für das Vorbild, Sensei.


Bill Douglas’ Schottische Trilogie: MY CHILDHOOD (Bill Douglas, UK 1972) / MY AIN FOLK (Bill Douglas, UK 1973) / MY WAY HOME (Bill Douglas, UK 1978)

Die drei mittellangen Filme (46 Min, 55 Min, 71 Min) reihen narrativ weitgehend unverbundene Szenen, freie Radikale; dabei geht es weniger um Ereignisse oder Erinnerungen per se als um Gefühlskonstellationen, die sich oft um einen Gegenstand herum kristallisieren. Viel trostloser und verhärmter kann man sich ein Aufwachsen nicht vorstellen, als diese Kindheit in der kleinen schottischen Bergbausiedlung, Bill Douglas' Kindheit. Die seelische und materielle Not ist niederschmetternd – aber die Filme sind es nicht. Vielleicht, weil die Rekonstruktion selbst zum Beweis einer Bewältigung wird, einer „Menschwerdung”, die um so mehr beeindruckt, als Douglas Selbstmitleid völlig fremd ist. Ein epochales, emanzipatorisches Werk. 


Lesetipp: Nicolaus Perneczky über die Trilogie.



A QUIET PASSION (Terence Davies, UK 2016)


Wie tief empfunden diese Künstlerinnenbiografie ist, kann man anhand der Dialogregie erahnen, bei der man Terence Davies gewissermaßen mitsprechen hört – oder jedenfalls schien mir seine sehr eigentümliche Kadenz immer wieder durchzuscheinen. Er hat sich offensichtlich wiedererkannt in dieser unwahrscheinlichen Dichterin, die Cynthia Nixon aufregend-kippelig zwischen Rebellion und Rückzug spielt. Nach Davies' Lesart ist Emily Dickinsons Kunst nicht Wille und Vorstellung sondern ein trotziges Leiden an den eigenen Möglichkeiten, und dieses Nicht-anders-können ist sehr berührend, auch und gerade, weil sie ihr „Jammertal” mit scharfem Witz bekämpft und verteidigt. 


BULLITT (Peter Yates, USA 1968)

In der Art, wie hier realistisches Detail und Coolness, aber auch Empfindsamkeit und Männlichkeit neu arrangiert werden – analog zu Lalo Schifrins treibender, schwereloser Musik – entsteht ein stilistisches Modell, in dem Plot und Figuren zu einer flächigen, leicht entrückten Erfahrung werden. Die Männer, und insbesondere Steve McQueen, werden zwar empfindsamer, zweifelnder, gefährdeter gezeigt als das im amerikanischen Genrekino zuvor üblich war, Frauen aber bleiben Staffage. Jacqueline Bisset ist Objekt einiger skizzenhaften Andeutungen, um den sozialen Raum des Helden zu markieren, eine echte Beziehungsebene gibt es nicht. Um zu verhindern, dass das Übergewicht der visuellen und rhythmischen Delikatesse – man könnte auch sagen: der „Effemination” der Form – affektiv ins Leere läuft, forciert Yates die Gewalt, die vergleichsweise drastisch ausfällt. Michael Mann hat diese Genre-Balance eine Dekade später weitergeführt, u.a. die Barszene in THIEF und das Flughafen-Finale in HEAT sind im Grunde BULLITT-Variantionen. 

Was macht aber nun eigentlich die Coolness aus, die auch heute noch Schauer der Bewunderung auslöst? Und was liesse sich über Steve McQueen sagen, außer, dass er eine Klasse für sich war, definition of cool? Es gibt eine Spur in Quentin Tarantinos schönem ONCE UPON A TIME IN HOLLYWOOD. Leonardo Dicaprio spielt dort einen abgehalfterten Schauspieler, der in einer Szene davon erzählt, wie er sich für kurze Zeit hatte Hoffnung machen dürfen, Steve McQueen in THE GREAT ESCAPE zu ersetzen. Tarantino bebildert diese „Cinema Speculation” mit Filmausschnitten, indem er Dicaprio in eine Szene des Sturges-Film montiert. 

Natürlich, Dicaprio spielt hier einen Schauspieler aus der zweiten (oder dritten) Reihe, er soll also womöglich gar nicht als die bessere Wahl erscheinen, aber es ist doch interessant, die beiden zu vergleichen. McQueens Coolness erweist sich als ein Absehen von Schnörkeln, als eine bestimmte Art der Nonchalance im Angesicht des Todes, als ein Trotz, der sich charismatisch-körperlich mitteilt. Dicaprios Spiel scheint dagegen aus einer Fülle von Überlegtem, aus Ticks und Tricks zu bestehen, die sich nie zu einem Ganzen formen. Das soll ihn nicht herabwürdigen, mir macht seine eklektische Spielweise in dem Film Freude – nur cool ist sie eben nicht.


THE FACE OF ANOTHER (Hiroshi Teshigahara, Japan 1966)


Erscheinungen, Zuschreibungen, Freiheiten unter der Maske: ein faszinierendes Gedankenspiel über die Frage, was ein Gesicht sagt, und wie fest es verbunden ist mit unserer Identität. 


SILENT CITY DRIVER (Sengedorj Janchivdorj, Mongolei 2024)


Schuld und Sühne im Ulan Bator der Gegenwart, mit einem hypnotischen Hauptdarsteller (Tuvshinbayar Amartuvshin), dessen El Greco-Proportionen die Leinwand sprengen. Janchivdorjs Stil ist exzentrisch, so manche Einstellung setzt ungewöhnliche Prioritäten, etwa indem scheinbar nebensächliche Objekte ganz nahe am Objektiv die Handlung in den Hintergrund drücken, aber nicht um vom Wesentlichen abzulenken, schien mir, sondern um die Kinowahrheit zu vertiefen. Denn Deformation, die Gewalt der Verhältnisse, die Normalität als Ausnahmezustand, ist Thema dieses dunklen Märchens. Das Ergebnis ist faszinierend fremd, und auch wenn man Einflüsse oder Parallelitäten ausmachen kann – ich musste manchmal an Leos Carax' HOLY MOTORS, an Jean-Jacques Beinix' DIVA und an Yi'nan Diaos FEUERWERK AM HELLICHTEN TAGE denken – ist das eine einzigartige, neue Handschrift.



THE APPRENTICE (Ali Abbasi, USA 2024) 


Die Cohn-Figur hat Kraft. Der militante Nihilismus, der ihn panzert, dahinter aufschimmernd eine privilegierte jüdische Kindheit einerseits, das Wissen um seine Außenseiterrolle als Homosexueller (und als ungeliebtes Kind seiner Mutter) andererseits, sein untrügliches Gespür für die Schwächen der anderen, sein immer auch spielerischer Sadismus, der stets zur Stelle ist, die erkannten Schwächen zu benutzen, die atemberaubenden Widersprüche, die er in sich vereint, die Würze seiner Sprache auch - all das spielt Jeremy Strong mit hypnotischer Überzeugungskraft. Kein Zweifel, diese Figur ist die Kinokarte wert.


Man kann eine Weile lang auch verstehen, was die (Filmversion von) Cohn daran reizt, den jungen Tölpel Donald Trump (wie Sebastian Stan ihn spielt) zu seinem Lehrling zu machen. Aber sobald der Film von Cohns dunkler Energie auf Donald Trump selbst zu fokussieren beginnt, geht ihm die Luft aus. Denn Trump im Film wie im Leben kennt keine Fallhöhe, hinter seiner Maske ist dieselbe Leere wie außerhalb, es gibt nichts zu entdecken oder zu zeigen. Trumps Grausamkeiten fehlt jeder Witz, jedes Gespür auch für das Gegenüber, sein Realitätssinn ist unterentwickelt, seine Waffen sind so stumpf wie seine Ideen – kurz, alles, was Cohn zu so einem faszinierenden Bösewicht macht, geht seinem Lehrling ab.


Warum sollen wir uns für ihn interessieren? Natürlich: weil er geworden ist, was er geworden ist – aber im Kino kann das nicht genügen. Und so fühlt es sich an, als würde der Film vom Kino ins Fernsehen wechseln, in eine billige Serie, und Abbasi betont das noch, in dem er weite Teile der Trump-Geschichte einen Video-Look gibt, die Zeilen werden sichtbar. Nur was damit gewonnen wäre, politisch oder ästhetisch, will mir nicht einleuchten.


WALKOVER (Jerzy Skolimowski, Polen 1965)


Eine Kettenreaktion des Missverstehens. Jede Szene ein Schlag, ein Unfall, eine Verwechslung, keiner meint, was er sagt oder sagt, was er meint, aber alle nehmen diesen Hindernislauf seltsam leicht und nach einer Weile erkennt man die Ähnlichkeit mit dem Leben, das wir uns ja täglich reibungsloser und sinnfälliger erzählen, als es ist. Narrativer Free Jazz, solistisch, vielleicht auch: nihilistisch, jedenfalls nah an der Grenze zum Nichts.

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