20 November, 2023

Kino =


Garage Screen Summer Cinema, Moskau 2019 (Syndicate Architects)


… offenes Haus

Keine geschlossene Gesellschaft bitte! Darauf können wir uns wahrscheinlich einigen. Aber wie offen ist das Haus wirklich, mit Kinderwagen, mit dem Rollstuhl, für jemanden, der die Sprache des Films / der Untertitel nicht spricht, der nicht gut sieht oder hört, der arm ist oder „einfach”? (Als Jugendlicher habe ich mit einem blinden Gleichaltrigen manchmal Filme gesehen, seitdem weiß ich, wie wichtig Kino zum Beispiel für Blinde sein kann.)

 

… billiges Vergnügen

 

Billig ist Kino schon lange nicht mehr. Aber hoffentlich noch immer keine Oper für Arme! Was stört an der Oper? Die hohe Schwelle. Die Hierarchie. Das Prätentiöse. Aber auch das cinephile Distinktionsbedürfnis kann ausschließend sein.

 

… Sitzstreik gegen den Tod

 

Es hat etwas Trotziges, ins Kino zu gehen, finde ich. Wir sitzen und setzen die Zeit aus. Gemeinsam sagen wir wie Faust: „Verweile doch, du bist so schön.” Und wenn Cocteau sagt, der Film würde dem Tod bei der Arbeit zusehen, dann heißt das eben auch: dass wir uns in einem Außen wähnen, auf der anderen Seite des Spiegels. 

 

… Traum von Zusammenhang

 

Ist das nicht der schönste Traum? „Alle Menschen werden Brüder” (und Schwestern usw).

 

… Traum gemeinsam träumen

 

Klingt nach Sciencefiction, aber das Kino ist doch eigentlich ziemlich nahe dran: endlich Träume teilen können. Gemeinsam träumen, und nachher gemeinsame Traumdeutung!

 

… Gehäuse der Sehnsucht

 

Darin steckt auch ein Zwiespalt. Spalten wir die Leidenschaft, die Sehnsucht nicht vielleicht ab von unserem Alltag, lagern sie aus? Sie kennen den Spruch: der geht zum Lachen in den Keller. Wenn wir zum Fühlen ins Kino gehen, folgen wir dann einer ähnlichen Logik?

 

…  Lichttisch für Blaupausen des Lebens

 

Das ist für mich beinahe das Wichtigste am Kino: Gelegenheit haben, andere Lebensentwürfe zu betrachten, auszuprobieren, parallele Leben zu leben.

 

… Proberaum der Gedanken

 

Was wäre, wenn? Hätte hätte Fahrradkette. Wir probieren uns aus, und der Film probiert mit uns. Alles machen wir nicht mit. Aber oft lassen wir etwas mitgehen. Einen Satz, eine Geste. Im Proberaum gibt es die Chance, das Lebens so leicht zu nehmen, dass Alternativen plötzlich möglich scheinen. Kino trainiert den Möglichkeitssinn.

 

… Dunkelkammer der Gefühle

 

Die Gefühle werden belichtet und entwickelt, organisch-mechanisch. Wir haben eine Empfindlichkeit, die reagiert. Ist das nicht eine verblüffend vielsagende Metapher?

 

… Innen als Außen 

 

Der Berliner sagt: „Kommen se rinn, können se raus kieken”. Wir gehen ins Kino, und schauen durch das Fenster der Leinwand in die Welt. (Das bekommt nochmal eine besondere Note in dem vorhin gezeigten Saal des „Valencia Theatre”, das ja innen einen Außenraum vortäuscht, was es in der historischen Kinoarchitektur übrigens oft gab.)

 

… Außen als Innen

 

Auch das Kino selbst funktioniert invers. Wir sehen ein Außen, können eben nicht ins Innere der Spieler sehen und erzeugen selbst die passende Innerlichkeit. Ohne diese unsere Mitarbeit besteht Film nur als Licht und Nicht-Licht, bleibt also vollkommen abstrakt. Was natürlich auch interessant sein kann.

 

… synchrones Atmen

 

Im Dunklen, wenn das Wesen Publikum erwacht, atmet man gemeinsam. Gänsehaut.

 

… Chor des Mitgefühls 

 

Wir bilden einen Chor des Mitgefühls, seufzen und jauchzen auch gemeinsam. Vielleicht knüpfen wir so an das Theater der Antike an. Wir sind Vor- und Nachhall der Ereignisse, die sich vor unseren Augen vollziehen (um hier Michael Baute zu zitieren).

 

… Rendezvous 

 

Das Kino ist eine erotische Angelegenheit, hat Alexander Kluge einmal gesagt, nicht nur wenn wir in Begleitung kommen, sondern eben auch, weil wir ein Stelldichein mit einem Film haben, mit den Schauspielern usw.

 

… Blind Date

 

Blind Date mit einem Film: Alles kann passieren. 

 

… reine Gegenwart

 

Das Kino ist eine „Erfindung ohne Zukunft”, meinten die Brüder Lumière, und vielleicht hatten sie recht: denn es ist immer Gegenwart.

 

… verflüssigte Vergangenheit 

 

Das Kino ist in jedem Fall eine Zeitmaschine, erlaubt, was uns das Leben verweigert: die Wiederholung. Oder anders herum: Das Leben ist ein Remake von anderen Leben. Im und mit dem Kino können wir plötzlich über diesen Wiederholungszwang nachdenken.

 

… Gesprächspause

 

Einfach mal nichts sagen (müssen).

 

… Gesprächsstoff 

 

um diese Pause danach sozial zu verstoffwechseln. Wo? Die sprichwörtliche „Kneipe gegenüber” vermisse ich schmerzlich an vielen Berliner Kinoorten.

 

… Aufladung

 

Mit leerem Akku kommen, mit vollem gehen. Oder laden wir das Geschehen auf der Leinwand auf? Ist unsere Erfahrung nicht Ressource und „Akku” des Films?

 

… Entladung 

 

Wir stillen aber auch unseren Appetit nach Chaos, Gewalt, Zerstörung im Kino. Macht das die Welt friedlicher oder kriegerischer? Make my day, Punk!

 

… Séance

 

Wir rufen Geister in unsere Mitte. Kino ist Erbe okkulter Bräuche.

 

… Werwolfshöhle

 

Wir verwandeln uns, unheimlich durchaus auch für uns selbst: worauf wir in der Hitze der Identifikation zum Beispiel hoffen, kann sich krass unterscheiden von dem, was wir öffentlich gutheißen. Wir lauern im Kino auf Gelegenheiten, die eigenen Ansprüche zu unterlaufen. Die sogenannten niedrigen Instinkte kommen zu ihrem Recht. Und wenn das Licht dann angeht, der Werwolfspelz gerade abgestreift ist, kann das beschämend sein. Man sieht dem Nachbarn dann erstmal nicht ins Auge.

 

… automatische Gemeinschaft

 

Gesellschaft wird erzeugt. Wir kennen das aus der Schule. Wenn der Banknachbar das Popcorn so laut kaut, kann das auf die Nerven gehen. Andererseits: was gibt es Schöneres als zu merken: wir sind am Leben, zusammen.

 

… soziale Praxis

 

Vor allem anderen ist Kino eine soziale Praxis. Aber wir sollten nicht vergessen: Gewohnheiten können sich ändern. Manchmal über Nacht.

 

… soziale Plastik

 

„Ist ein lebendiges, sich stetig veränderndes Ganzes. Lebt unsichtbar im Jetzt und strebt fortwährend hin zu ihrer Freiheitsform, die sie erst zum Kunstwerk macht.” Beuys-Esoterik, ja, aber die Vorstellung, Kino als Kunstform weiter zu fassen – also nicht nur Film-Kunst, sondern Kunst im gesellschaftlichen Zusammenhang, den u.a. eben auch Film und Kino stiften, befragen, erweitern können, Kino als Katalysator gesellschaftlicher Prozesse – das finde ich bedenkenswert.




Stichwortkatalog zu Kino als Raum und Vorstellung, als „Impuls” vorgetragen am 17.11.2023 in der Akademie der Künste, anlässlich der Veranstaltung „Berlin, welches Kino willst du?” (die man hier nachhören kann). Danke: Frédéric Jaeger, Hannah Pilarczyk.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen