14 November, 2022

(Wieder-) Gesehen: [19]


 IL BUCO (Michelangelo Frammartino, Italien 2021)

Widersteht der Versuchung der Fiktion, das Loch zu füllen: Michelangelo Frammartinos dritter Film nach IL DONO (2003) und LE QUATTRO VOLTE (2010) folgt Höhlenforschern in die Tiefe, ohne zu interpretieren. Sein Thema ist weniger die Rekonstruktion einer historischen Mission (auch wenn der Film die historischen Details ernst nimmt) als die Konstruktion einer Zuschauererfahrung. So entsteht ein „Realismus” des Blicks, zugleich abgewandt und immersiv. Große Empfehlung.


WILD GOOSE LAKE (Diao Yinan, China 2019)

Diao entwirft ein panoramisches Bild in lebendigem Austausch mit Vorläufern und Wirklichkeit, ein China von unten, wie es Fritz Lang hätte interessieren können. Mehr als einmal musste ich an M denken, vor allem in der Art, wie sich hier ein soziologisches Interesse an Zusammenhängen mit genuin visuellen Ideen verbindet. Noch nie hatte ich im Kino so sehr das Gefühl, China erkennen zu können, auch wenn die Handlung in den 90er Jahren spielt und natürlich alles andere als realistisch ist. Großartig.



AFTERSUN (Charlotte Wells, GB 2022)

Wie soll ich es sagen: man wohnt in diesem Film der Präsenz der Figuren bei, atmet ihre Anwesenheit ein und atmet aus. Erstaunlich, was man alles weglassen kann, wenn man weiß, was man sucht. AFTERSUN besteht aus Momenten, Splittern, Augenblicken. Wells konzentriert sich in ihrem Debütfilm ganz minimalistisch auf den Zwischenraum ihrer Figuren, auf kleine und kleinste Marker ihrer Anwesenheit. Das ist sehr schön und sehr traurig; bei aller Leichtigkeit ist immer ein Schatten anwesend. Die Vaterfigur (Paul Mescal) tendiert ins Untröstliche, Verlorene, und auch oder gerade weil die Beweislage für dieses Gefühl brüchig ist, hat es bei mir für viele Tränen gesorgt. Dabei ist die Perspektive der Tochter (Frankie Corio), die den Film bestimmt – ganz klar Stellvertreterfigur der Regisseurin und zugleich mit einer wunderbaren Eigenständigkeit ausgestattet – nicht fokussiert auf Negatives oder einen unglücklichen Ausgang. Aber die Genauigkeit, mit der sie versucht, der verlorenen Zeit habhaft zu werden, impliziert Verlust – und erlaubt uns, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen.

P.S.: Ich bin über diese wunderbare Kritik von Sheila O'Malley auf den Film aufmerksam geworden. 



DIE ROTE (Helmut Käutner, BRD 1962)

Die Zutaten sind vielversprechend: Helmut Käutner, ein Jahr nach seinem tollen SCHWARZER KIES. Eine erwachsene, sich verweigernde Heldin, gespielt mit schöner Diskretion von Ruth Leuwerik. Ein zugegeben oft fotografierter, aber gegen den Strich gekämmter Schauplatz: Venedig, außer Saison. Kamera: Otello Martelli (LA DOLCE VITA)! Aber was sehr überzeugend als Abbruch beginnt – gegen die Lügen, gegen das Arrangement mit der deutschen Gegenwart – verläuft sich bald im Poetisch-Allgemeinen. Weder der Film noch die Figur kommen über das „Nein” des Anfangs wirklich hinaus. Anders als, zum Beispiel, Joseph Losey mit EVA im gleichen Jahr in der gleichen Stadt (es gibt noch andere Parallelen), traut sich Käutner nicht, wirklich abzurechnen. Eher sagt er – wortreich, mit Leuweriks Erzählerstimme – man könnte, sollte, müsste. Um dann doch wieder einen Schritt zurück zu machen. Diese „Frauengeschichte” ist zögerlich, wo sie subtil sein möchte. Aus der Bahn gerät der Film aber mit einem grellen Plot-twist. Ich kann mir keinen seltsameren Umweg denken, von NS-Verbrechen zu erzählen: Franziska lernt Patrick (Giorgio Albertazzi) kennen, den homosexuellen Erben einer irischen Brauerei, der ihr erzählt, er sei in der Heimat zum Ausgestossenen geworden, weil er unter deutscher Folter einen Landsmann verraten habe. Nun will er an dem in Venedig weilenden (und von Gert Fröbe verkörperten) Gestapo-Mann Kramer Rache üben. Der hatte ihn nicht persönlich gefoltert, aber als good cop im schmutzigen Geheimdienstspiel zum Verrat überredet. Patrick lockt Franziska an Bord seiner Yacht, um damit wiederum den SS-Mann zu ködern. Auf dem Schiff vergiftet er dann Kramer. Franziska fühlt sich mißbraucht, und wir auch. So ergibt sich die perverse Sensation, dass wir mit Franziska den verlorenen Iren noch unanständiger finden, als den karikaturesk-vulgären deutschen Verbrecher Kramer (der, sehr originell, auch noch Albino ist). Die Emanzipationslinie der Geschichte erholt sich von dieser Verirrung nicht mehr. Am Ende hilft nur die Flucht aus Venedig, aus dem Film. Natürlich, die als Aufklärung getarnte Täter-Opfer-Umkehr hat sich Andersch ausgedacht, nicht Käutner. Aber Käutner hat sich andere Freiheiten genommen gegenüber dem Roman – warum er ihm hier folgt und die deutsche Schuld so umständlich verdreht, bleibt rätselhaft.


ROMANZE IN MOLL (Helmut Käutner, D 1943)

Eine raumgreifende Fahrt stellt die ganze Dekoration vor, ein (in Berlin) gebautes Paris, um 1880: der Platz, die Straße, Laternen, ein Zaun, kärgliche Bäume. Keine sehr schmucke Gegend, und „ohne besondere Merkmale” ist auch der, der da nachhause kommt. Aber noch bevor der Mann seine Wohnung erreicht hat, zeigt uns Käutner im verklärenden Licht, hinter wehenden Vorhängen, eine Frau: Marianne Hoppe. Sie liegt Schneewittchen-haft, tot und doch nicht tot, im Bett. Für den „Zwerg”, ihren Mann, der jetzt die Tür öffnet, macht das wenig Unterschied, er sieht den ganzen Film über von ihr ab, ist immer schon auf ein Tauschverhältnis aus, meint sie nicht, will allenfalls, dass sie für ihn glänzt, wedelt ihr mit den kleinen Scheinen fast ins Gesicht: „Was bekomm ich denn dafür, Schätzchen?” Ein Kleinbürger, dem Paul Dahlke von vorne herein etwas Engstirniges gibt, schon wie er die Kleidung ablegt, und erst recht, wie er nicht bemerkt, was wir schon zu Beginn ahnen: dass sie Gift genommen hat. Ein blinder Mann, der auch später, als man ihn sehend macht, zu keinem Erkennen fähig ist. Ihr Selbstmord ist Auslöser einer Recherche, aber auch wenn uns ihr Mann zum Pfandleiher und von dort zum Juwelier bringt, denn die Perlenkette ist echt!, reicht seine Neugier nicht so weit, um die Handlung zu bestimmen, einmal angestossen übernimmt der Erzähler die Recherche … immer sind es Männer, die den Weg der Frau abzweigen lassen. Der Film hat durchaus Bewusstsein dafür, dass die Wegelagerei der Männer Gewalt ist, der Regisseur bringt das in einem Gastauftritt auf den Punkt, wenn er sich selbst Zeilen in den Mund legt, die Frauen jedes tiefere Empfinden absprechen… und doch bringt Käutner es fertig, die Männerwillkür immer wieder zu beschönigen. Er inszeniert den wohlhabenden Künstler (Ferdinand Marian) als Jäger, und die Jagd nach der schönen Frau als einen Sport, an dem wir Zuschauer Vergnügen finden sollen. (...)

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