Im Theater. Bevor sich der Vorhang hebt, erscheint ein Mann, berichtet von dem Fahrradunfall der Hauptdarstellerin und dass sie sich das Knie verletzt habe. Sie werde nichtsdestotrotz auftreten, allerdings an der einen oder anderen Stelle von der üblichen Choreografie abweichen, um ihr Knie zu schonen. Obwohl sich die Aufführung nicht merklich von den anderen unterscheidet, verändert die Ankündigung die Wahrnehmung erheblich. Das Knie der Schauspielerin wird zum heimlichen Hauptdarsteller. Das ist die Macht des Vorzeichens.
Einen Film auf DVD zu sehen bringt manchmal Informationen ins Spiel, die die eigene Wahrnehmung auf eine ähnliche Art programmiert. Zum Beispiel sehe ich einen Film in der Originalsprache die ich beherrsche oder zumindest zum Teil verstehe. Um sicher zu gehen oder weil der Ton schlecht ist (oder meine Vorführtechnik) schalte ich Untertitel zu, gerne ebenfalls in der Originalsprache. Es ergeben sich Interferenzen. Die Untertitel kürzen ab, sind fehlerhaft, oder eilen dem Ton weit voraus – so dass ein ganz seltsames Überlegenheitsgefühl entsteht. Man hängt an den Lippen der Schauspieler, so wie man vielleicht an den Lippen eines Stotterers hängt, ungeduldig. Manchmal stehen nur Untertitel für Schwerhörige zur Verfügung – und man bekommt Beschreibungen von Musik („beschwingte Tanzmusik”) und Stimmungen („Wind pfeift”) geboten, die der eigenen Wahrnehmung Konkurrenz machen. Manchmal werden gar Dialoge aufgeführt, die im Ton nicht zu hören sind. Auch hier drängt sich also das „Knie” in den Vordergrund.
Ich frage mich, ob man die Politik der Vorzeichen nicht bewusster betreiben sollte. Auf Kritiken, Werbung oder Untertitel haben Filmemacher in der Regel wenig Einfluss. Aber natürlich kann der Erzähler selbst Vorzeichen zum Einsatz bringen. Wer „A True Story” vor einen Film schreibt, der alles andere als „wahr” ist, will sein Publikum programmieren und mit dieser Programmierung womöglich ein ironisches Spiel treiben - wie es die Coens in „Fargo” gemacht haben. Aber auch innerszenisch können Vorzeichen nützlich sein. Zum Beispiel kann man eine Figur über Ankündigungen aufladen und so die Aufmerksamkeit des Publikums justieren. Kaum je habe ich das so stark erlebt wie in Marcel Ophüls' großen Film „Hotel Terminus”, wo Eichmanns Anwalt Vergès wieder und wieder zur Sprache kommt („der Teufel”), bevor man ihn zum ersten Mal sieht. Als er dann auftaucht in all seiner Glätte, ist unser Blick geschärft für jede kleinste Anomalie ... Für mich eine der unheimlichsten Begegnungen der Filmgeschichte.
Natürlich gibt es noch unzählige weitere Beispiele, die dem Prinzip „Vorzeichen“ folgen. Jemand, der das geradezu systematisch betreibt, ist ja Werner Herzog: das berühmte Falschzitat vor „Lektionen in Finsternis“, das er Blaise Pascal zuschreibt, etwa. Ich glaube, es war sogar in REVOLVER, dass ich las, er setze dies ein, um die Zuschauer „höher in den Film einsteigen [zu] lassen“.
AntwortenLöschenAnsonsten haben „wahre“ Zitate zu Beginn eines Films ja geradezu bis in den Mainstream Schule gemacht: kein epischer Hollywoodfilm mehr, der ohne T. S. Eliot-Zitat auskommt. Manchmal kommt das über bloßes Lametta nicht hinaus.
Stimmt --- Herzog spielt die Macht des Vorzeichens gerne aus...
AntwortenLöschenC
Wobei ich mich schon seit längerem frage, ob diese Art Vorzeichen nicht schlicht zur Sensibilisierung des Zuschauers genutzt werden könnte. Also: man zeigt auf etwas (etwa: ein formales Mittel) und erreicht dadurch eine höhere Aufmerksamkeit, eine höhere Sensibilisierung für diese Komponente eines Films.
AntwortenLöschenProfanes Beispiel: viele Zuschauer achten selten auf die Lyrics eines Songs, der nicht selten (siehe Scorsese) zur Kommentierung/Konterkarierung des aktuellen Filmgeschehens eingesetzt wird. Könnte man nun also zu Beginn eines Films (Vorzeichen) eine Sensibilisierung für diesen formalen Aspekt beim Zuschauer erreichen? (Spontane Idee: Der Film beginnt mit einem Song, die Leinwand bleibt schwarz, die Lyrics werden als Texteinblendung unmittelbar sichtbar gemacht, der Schnitt folgt erst nach Ende des Songs.) Wäre das überhaupt wünschenswert? Oder wäre es schlicht zu plump, zu unsubtil?
Andererseits: es fänden sich sicher treffendere Beispiele...