Die große Erzählung der Nachkriegszeit - mit dem Sieg über Nazi-Deutschland als Nullpunkt komplementärer Fortschrittsvarianten in West und Ost - hat ihre Wirkmacht verloren. Das Rumoren entlang der geopolitischen Nahtstellen ist Folge dieses langen Abschieds, der mit dem Fall der Mauer begonnen hatte, aber erst heute und wohl nicht zufällig mit dem Tod der letzten Zeugen zum Abschluss kommt. Die Gründe sind vielfältig, die Summe großer und kleiner Verschiebungen, darunter natürlich die Zumutung eines direkten „Feedbacks” unseres Planeten auf unser Handeln (die immer offensichtlichere Klimakrise), der relative Abstieg der USA als Führungsmacht und der (unaufhaltsame?) Aufstieg Chinas.
Entsprechend kracht es im Gebälk der Garanten der alten Ordnung: Brexit, Trump (1), der russische Überfall auf die Ukraine und Trump (2) sind dafür ebenso Ausdruck wie das Erstarken diverser autoritärer Regimes, die Morgenluft wittern. Und während alle Wetten darauf abschließen, wer die nächste Erzählung schreiben wird – und die Frage offen ist, ob eine neue Ordnung noch einmal so dominant werden kann, – verformen sich auch die Innenräume der europäischen Parteienlandschaft. Die Volksparteien sind auf dem Rückzug, vor allem die rechtsextremen Ränder erstarken, deren Reizwörter die Debatten dominieren.
Gleichzeitig stehen die westlichen Demokratien vor der Aufgabe, Antworten auf eine Vielzahl von (realen) Problemen zu finden, die in der Kombination Politik und Bürger überfordern. Von den (noch lange nicht bewältigten) Folgen der Corona Pandemie über den schon erwähnten Krieg Russlands gegen die Ukraine (und dem Dämon verschieblicher Grenzen), von der demographischen Krise bis zur technologischen Transformation (KI), von Irans Proxy-Krieg gegen Israel (Gaza, Lebanon usw.) bis hin eben zur Klimakatastrophe als „unüberwindliches” Problem scheint unsere Gegenwart von Krisen umstellt.
Viele können sich deshalb eine bessere oder auch nur lebenswerte Zukunft nicht mehr vorstellen - und wenden den Blick ab. Sie identifizieren die Zukunft als Feind und wählen antirealistisch. Belohnt werden politische Akteure, die Illusionen verkaufen. In Deutschland besorgt dieses Geschäft längst nicht mehr nur die AfD. Auch (Teile der) CSU, CDU, FPD und BSW sind dabei, ihre Politik in einem argumentativen Unterbietungswettbewerb zu „modernisieren”. Sie haben in der Hauptsache drei Produkte im Angebot.
1. Verleugnung. Die Klimakatastrophe: ein Hoax. Gender: gaga. Putin: will Frieden. Und ähnlichen Unsinn mehr. 2. Schuldprojektion. Die Ausländer / der Islam / die Grünen / die „Kartellparteien“ / LGBTQ+ sind an allem Schuld, was nicht mehr „normal” ist. 3. Verklärung. Früher war alles besser. Wann genau muss vorerst vage bleiben, wobei die Projekte „Ehrenrettung der NS-Zeit“ und „Ehrenrettung der DDR” immer neue Blüten treiben.
Schon weil die Bestseller unter diesen Fiktionen nicht nur unbrauchbar, sondern in ihrer autoritären Menschenfeindlichkeit auch gefährlich sind, kann uns diese Entwicklung nicht egal sein. Aber was können wir tun, Zuversicht in die Gestaltungsmöglichkeiten „klassischer“ d.h. lösungsorientierter Politik aufzubauen? Wie können wir alle ohne Angst, aber auch ohne uns Illusionen hinzugeben, nach vorne schauen? Wie könnte ein „realistischer Optimismus“ aussehen?
Viele antworten darauf derzeit mit der Forderung, man müsse eben „konsequenter regieren” oder „entschlossener handeln”, womit fast immer symbolpolitische „Machtwörter” oder andere autoritäre Gesten gemeint sind. Merz hat seine Vorstellung davon gerade zum Schaden aller Demokraten zur Aufführung gebracht. Trotz einer großen Fülle an warnenden Beispielen hält er es immer noch für eine brauchbare „Strategie”, die radikale Rechte einzudämmen, indem er ihre Positionen übernimmt, vermeintlich um ihre Themen „abzuräumen”. Selten war eine taktische Fehlkalkulation so offensichtlich, von der praktischen Untauglichkeit der Vorschläge ganz zu schweigen.
Ich glaube, weil wir zunehmend in einem Post-Informationszeitalter leben, das von Social Media als einer Daten- und Gefühlsindustrie, die in der Wut zu sich kommt, getrieben wird, müssen sich politische Kommunikation und politisches Handeln grundsätzlich verändern. Eine neue Vision von der Zukunft, gegen die der Blick in den Abgrund und die verklärende Rückschau alt aussehen, wird sich nur durchsetzen können, wenn wir der digitalen Illusion eines Empowerments (mit der Flut an falschen plebiszitären Elementen) eine echte Beteiligung an politischen Prozessen gegenüberstellen, die es erlaubt, nicht nur Debatten sondern auch Lösungen mitzugestalten. Politik muss zu einer viel breiter zugänglichen Erfahrung werden, an der Lösung konkreter Probleme mitwirken zu können.
Weil unsere Zeit angeblich „zu komplex” geworden ist, haben wir es zugelassen, dass große Bereiche der politischen Sphäre von expertokratischen Strukturen gekapert wurden, die als anonyme und elitäre Black Boxes erlebt werden. Eben weil sich die „User“ heute Illusionen machen über ihren Durchblick, müssen wir sie einbinden und mit den Mühen der Ebene vertraut machen. Ziel muss ein größerer Realismus sein, auf allen Seiten. Der Zugang zu Politik als Aufgabe muss demokratisiert werden. Aleatorische Elemente – zum Beispiel eine Art politisches Schöffensystem – könnten dabei eine wichtige Rolle spielen. Die Vereinfachung von Prozessen wäre wichtig. Die Abstraktion muss abnehmen, nicht nur im Bürgeramt und bei der Steuererklärung, sondern in allen Interaktionen zwischen Bürger und Staat.
Politik muss als „gutes Handwerk” mit praktischem Nutzen sichtbar werden, braucht aber vielleicht auch neue „Lieder”. Könnte es sein, dass wir (links der Mitte) nicht weniger, sondern mehr Ideologie wagen müssten, im Sinne einer die Welt und ihre Möglichkeiten beschreibenden Programmatik? Kooperation, Solidarität und Fantasie muss in die Mitte der Debatte getragen werden. Dafür braucht es neue Erzählungen.
Weil allenthalben über die Qualität des politischen Personals gejammert wird: Wir haben nicht die Zeit, auf Akteure zu warten, deren Charisma die Enge der aktuellen Spielräume transzendieren könnte (was nebenbei bemerkt wieder andere Probleme schaffen würde). Eine neue politische Kultur durchzusetzen wird also in jedem Falle harte Arbeit. Keine der Koalitionen, die aktuell eine realistische Chance auf eine parlamentarische Mehrheit haben, sind Selbstläufer in diese Richtung. Es wird auf uns alle ankommen, den Wandel zu fordern, fördern und mitzugestalten.