29 November, 2024

Fragen und Antworten

Martine Carol in Max Ophüls' LOLA MONTEZ (D/F 1955).

German Films:
Welcher deutsche Film aus den letzten sieben Dekaden kommt Ihnen spontan in den Sinn, der Sie persönlich beeindruckt hat oder in Erinnerung geblieben ist – und warum?

Christoph Hochhäusler:
Wie wäre es mit LOLA MONTEZ von Max Ophüls (D/F 1955)? Beinahe so alt wie German Films, mit München-Bezug und vor allem visuell und erzählerisch immer noch zukunftsweisend.

Wie würden Sie den deutschen Film charakterisieren?

Das deutsche Gegenwartskino ist gut darin, Mittelwege zu gehen. Ein bisschen Kunst, ein bisschen Kommerz, niemandem wehtun. Das Ergebnis macht nur selten glücklich. Zu viele Filme werden nicht zu Ende entwickelt oder lauwarm produziert. Es mangelt nicht an Talenten und Ideen, aber an Intelligenz in der „Chancenverwertung”. Das müssen wir ändern.

Welche deutschen Filmemacher*innen haben Sie beeindruckt, vielleicht sogar beeinflusst oder sehen Sie signifikant für den deutschen Film?

Ernst Lubitsch, Max Ophüls und Fritz Lang sind ewige Favoriten für mich. Aber die Liste deutscher Filmemacher*innen, die mir wichtig sind, ist natürlich noch länger. Zu nennen wären (in der Reihenfolge ihres Geburtsjahrs) FW Murnau, Lotte Reiniger, Helmut Käutner, Konrad Wolf, Alexander Kluge, Frank Beyer, Roland Klick, RW Fassbinder, Dominik Graf, Thomas Heise, Christian Petzold, Thomas Arslan, Angela Schanelec, Romuald Karmakar, Valeska Grisebach, Jan Bonny u.v.a.

Als Ausblick: Was wünschen Sie sich für den deutschen Film?

Das deutsche Kino wird nur überleben, wenn es riskant, aufregend und dreist ist. Und zugleich – nur scheinbar im Widerspruch dazu – wenn es bereit ist, zu lernen, auf Erfolgen aufzubauen, Traditionen zu bilden.


Anlässlich ihres 70. Jubiläums hat German Films diese Fragen einer Reihe von deutschen Filmschaffenden geschickt, darunter auch mir. Meine Antworten stammen vom 21.07.2024.

Die Zufallsgärtnerei des deutschen Films

L’ARROSEUR ARROSÉ von Auguste und Louis Lumière, F 1895.


Es ist im Zusammenhang mit der deutschen Filmförderung oft die Rede von der „Gießkanne” gewesen, im Sinne einer beliebigen oder mindestens wenig zielgerichteten Verteilung des Fördergeldes. Mir gefällt an diesem Bild, dass es einen Garten impliziert. Ich will mir den Ort, an dem diese Gießkanne Dienst tut, für einen Augenblick genauer ausmalen. Das Wasser im Brunnen wären also (öffentliche) Gelder. Es gibt einen mehr oder weniger humusreichen Boden (unsere Geschichte und Gegenwart?), einen Zaun, angrenzende Gärten und Gebäude, einen Komposthaufen. Es gibt Gewächshäuser (Filmschulen?), saisonal blühende, aber auch immergrüne Pflanzen. Man könnte Bäume als Genres annehmen, Unkraut, das zwischen den Platten des Weges spriesst (die unerwünschten, ungeförderten Filme?) – bestimmt nicht weniger schön als die Zuchtrosen im Hochbeet, die irgendein Ungeziefer benagt, denn die Blüten fallen dürftig aus. Der Garten ist ein einziger Widerspruch. Hier ein gepflegter Fleck, dort Verwahrlosung, hier ein dreifach gesichertes Bäumchen, dort ein schöner alter Stamm, der brutal und ohne Sinn beschnitten wurde. Jedes Jahr gibt es an unverhoffter Stelle schöne Überraschungen, aber nie an der selben. Fragen drängen sich auf: was ist ein schöner Garten? Warum gibt es Zäune? Und ist das Gras beim Nachbarn nicht grüner?


Ein Bild aus Jacques Tatis MON ONCLE (F 1958)

25 November, 2024

Zahlenspiele

Wie viele Filme es insgesamt gibt oder gab, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Die kursierenden Schätzungen liegen zum Teil sehr weit auseinander. Aber egal ob es 1 oder 7 Millionen Langfilme sind, nur ein Bruchteil zirkuliert in den „Auswertungskaskaden”, und nur der Bruchteil eines Bruchteils kann von einem Einzelnen im Laufe eines Lebens gesehen werden. 

Das macht jede Filmgeschichte zu einer subjektiven Angelegenheit. Sie ist notwendig eine Schnittmenge aus Verfügbarkeit, Gelegenheit, Neigung; abhängig von Zeit, Wohnort, finanziellen Möglichkeiten und verfügbarer Freizeit. Beeinflusst vom Erfolg an der Kinokasse, word-of-mouth, der Rechtslage, von Filmkritikern und filmhistorischer Kanonisierung, von so schwer zu fassenden Dingen wie Zeitgeist und Mode, die den Appetit auf bestimmte Formen oder Themen plötzlich hervorzubringen scheinen (oder ist es umgekehrt?). 

Das schon erwähnte Letterboxd eignet sich ganz gut dafür, die eigene Seherfahrung zu vermessen, wenn man sich die Mühe macht, das Profil mit den gesehenen Filmen zu füttern. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass man so wirklich alle Filme erfasst, mit denen die eigene Netzhaut je in Berührung war, aber der bewusste Teil des Eisbergs ist zumindest ein Anfang. 

Ich komme aktuell (25.11.2024) auf 4558 Filme, die ich gesichert gesehen habe, ganz bestimmt keine astronomische Zahl (zum Vergleich: der Filmkritiker Lukas Foerster listet 16580). Ich habe spät angefangen mit dem Kino, nie einen Fernsehanschluss besessen, und war immer darauf bedacht, wichtige Seheindrücke nicht zu überschreiben. Das nur zur Einordnung. 

871 von den 4558 kann ich sehr empfehlen. Das sind unwahrscheinliche 19 % aller gelisteten Titel, jeder fünfte Film – was dafür spricht, dass der unter der Bewußtseinsoberfläche befindliche Teil des Eisbergs beträchtlich ist. 253 Filme habe ich als Meilensteine meiner persönlichen Filmgeschichte identifiziert, gute 5 %. Die Grenze ist einigermaßen willkürlich gezogen, aber ich wollte so etwas wie den Kern meines Pantheons finden. 

Die große Anzahl „respektabler“ Klassiker unter meinen Favoriten kann für Heuchelei halten wer will; als Spätberufener des Kinos habe ich den Vorwurf oft gehört, ich würde das Abseitige und Verfemte, Populäre und Unbewusste zu wenig würdigen. Ich kann nur sagen, dass ich versucht habe, ehrlich zu sein.  

Erhellend fand ich, die 871 für sehr gut befundenen Filme nach Dekaden zu sortieren. Da zeigen sich nämlich überraschende Unterschiede. Mit Abstand die meisten Filme stammen aus den 1960er (134), 1970er (124) und 1950er (113) Jahren, gefolgt von den 1980er (97), 1990er (86), 1940er (80und 2000er (79). Die Nachhut bilden die 1930er (60), 2010er (56), 1920er (27) usw. Dieses Muster wiederholt sich, wenn auch etwas weniger eindeutig, wenn man nur die aktuell 253 Meilensteine beleuchtet. 


Von den Filmen aus den Dekaden 30-70 hat mir in etwa jeder dritte Film gefallen, von den Filmen der 80er nur noch jeder fünfte, von den Filmen der folgenden Dekaden nur jeder 10.-12. Die Wahrscheinlichkeit, dass mir ein Film aus den 30ern bis 70ern gefällt, scheint also ungefähr 3,5 mal so hoch wie bei einem Film aus den 1990er bis 2010er Jahren. 
Wie soll man diese Zahlen interpretieren? Ist es der Niedergang des Kinos, der sich hier zeigt? Das Ergebnis hat mit Verfügbarkeiten zu tun, so viel ist sicher. Zum Teil zeigen sich Vorlieben und auch so etwas wie der „Horizont” meiner Generation. Womöglich lässt sich auch ein positiver Effekt der Kanonisierung (im Sinne eines Qualitätsfilters) nachweisen? So oder so, es ist nur eine Momentaufnahme, mit einer angesichts der Gesamtzahl aller Filme statistisch nicht relevanten Zahlenbasis...