GENTLEMEN JIM (Raoul Walsh, USA 1942)
In der an Wundern reichen Filmografie Raoul Walshs ist dieser Boxfilm eine Klasse für sich. Errol Flynn spielt James „Jim" Corbett, einen „überirdisch” selbstbewussten Mann auf dem Weg nach oben. Das Erstaunliche ist: nichts kann ihn aufhalten, und der Film versucht erst gar nicht, die Steine und Steinchen auf seinem Weg zu dramatisieren. Es gibt keinen Konflikt im engeren Sinne, die Dramaturgie ist die einer Wunscherfüllungsmaschine und als solche unerhört vergnüglich. Warum gönnen wir ihm den Erfolg eigentlich? Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Sicher, Flynn hat Charme für zwei, und sein Jim ist wirklich besser als die Konkurrenz – obwohl „Rückschläge” beim Boxen doch eigentlich zum Genre gehören. Ich glaube letztlich ist es der Flirt des Schauspielers mit den Zuschauern, der jeden Vorbehalt schmelzen lässt, Flynns Charisma scheint sich regelrecht von der Leinwand zu lösen, er meint uns, nicht seine Mitspieler: PURPLE ROSE OF CAIRO lässt grüßen. Jims love interest Viktoria (Alexis Smith) gibt ihm diesen Rabatt übrigens nicht – im Gegenteil steigert sich ihre Wut auf den Glückspilz immer weiter, sie will ihn scheitern sehen und macht das gewissermaßen zur Vorbedingung ihrer Liebe – weil sie erlebt, dass Frauen nichts geschenkt wird in dieser Welt, aber vielleicht auch aus Eifersucht auf uns Zuschauer. Allein: Jim scheitert nicht...
THERE ONCE WAS A SINGING BLACKBIRD (Otar Iosseliani, Georgien 1970)
Was ist gutes Timing? Die Frage stellt sich Gia (Gela Kandelaki) mit zunehmender Dringlichkeit; er ist Musiker, und kommt immer zu spät. Vorerst nicht zu spät für seinen Einsatz im Orchester, aber eben doch stets so knapp, dass andere für und mit ihm die Nerven verlieren, und das nicht nur im Konzerthaus. Ihm scheint das strenge Zeitmaß der Welt nicht einzuleuchten, alles ist leicht für ihn, leicht und vorläufig; wie eine Wolke zieht es ihn gerade dann weiter, wenn er versprochen hat zu bleiben. Iosseliani zeichnet sanft satirisch das wunderbar komische Porträt eines Mannes, der lange der Schwerkraft enthoben scheint, sich nicht entscheiden kann, das Leben ernst zu nehmen – bis es eines Tages eben doch zu spät ist.
WAIT TILL THE SUN SHINES, NELLIE (Henry King, USA 1952)
Das Porträt eines durchschnittlichen Mannes und die Geschichte einer Ehe, herausgefordert von Asymmetrien der Wahrnehmung: was Nellie (Jean Peters) als eine Kette verpasster Chancen erlebt, versteht Ben (David Wayne) als gelebte Bodenständigkeit. Sie fügt sich dem braven Schicksal lange, bis sie eines Tages erfährt, dass er ihr das volle Ausmaß seiner Ambitionslosigkeit bewusst vorenthalten hat. Empört vom Verrat an ihren Hoffnungen bäumt sie sich auf, um zu leben... aber auch tragische Ereignisse bringen Ben nicht dazu, sein Leben zu ändern, er bleibt als Provinzbarbier ewiger Zuschauer, einverstanden mit seiner Mittelmäßigkeit. Henry King sieht die Fehler seiner Hauptfigur, aber sein Blick ist milde, und es stimmt ja auch, dass die Menschen das Wollen überschätzen, und mit der Dauer schon das Über-Wasser-bleiben im Strom des Lebens als Leistung erscheint. Dem Film gelingt eine fein schattierte Zeichnung eines Lebensbogen, an dem wenig besonderes ist, und das auf eine so ergreifende Weise, dass mir Mitreisende (im Zug von Berlin nach München) während der Sichtung Taschentücher zuschoben. Ich habe sie gebraucht.
Lesenswert: Imogen Sara Smiths kluger Il Cinema Ritrovato-Bericht, der diesem Film eine längere Passage widmet.
DER HERR KARL (Erich Neuberg, Österreich 1961)
Ein Mann, ein Vorratskeller, ein Monolog: die Anordnung ist denkbar einfach, aber die Abrechnung mit dem „unpolitischen” Kleinbürgertum könnte schärfer nicht sein. Dieser „Herr Karl” ist bequem bis zur Verkommenheit, feige, rückgratlos, wendig im Umdeuten der eigenen Schwächen, denen er sich jederzeit ergibt. Helmut Qualtingers Genie besteht darin, aus dem abgefeimten Spießer ein Kunstwerk mimischer und moralischer Flexibilität zu machen. Man kann sich nicht sattsehen an diesem kleinen schwitzenden Mann, den „Radfahrer”, der nach oben buckelt und nach unten tritt, den Gelegenheitstäter, der sich zuverlässig als Opfer sieht. Ohne Leute wie ihn ist kein (faschistischer) Staat zu machen, und das weiß er. Auch als Beitrag zu der Frage, warum das antifaschistische „nie wieder” durchaus kein Selbstläufer ist, von erschreckender Aktualität.
EIGHTEEN YEARS OF PRISON (Tai Katō, Japan 1967)
Aufwühlend gewalttätig. In der Art, wie sich hier reale Konflikte und Widersprüche der Gesellschaft zu entladen scheinen, gewinnt er eine seltene Unmittelbarkeit. Das ist Kino: sichtbar machen, was in der Wirklichkeit vorhanden, aber noch ohne Form ist.
TARDES DE SOLEDAD (Albert Serra, Spanien 2024)
Bildnis eines professionellen Toreros, der im Angesicht des Todes – der Stiere, aber potentiell auch des eigenen – Posen der Verachtung zeigt, tänzerisch und maskenhaft. Ein leeres Zentrum, das auch und gerade in den Backstage-Szenen, davor, danach, nicht an Tiefe gewinnt, aber als Fläche ungemein faszinierend ist. Serra stellt Andrés Roca Reys Photogenie in den Mittelpunkt seines schönen, grausamen Films, der hunderte Stunden dokumentarischer Beobachtung zu nur einer Handvoll von Kämpfen verdichtet, in denen wir mit diesem Todbringer und seinen Helfern allein sind (denn das Publikum sehen wir nie). Es ist ein Sehen ohne Verstehen, ein Kino der Attraktion, auf das Serra aus ist, und darin liegt seine Qualität und vielleicht auch Begrenzung.
A LETTER TO DAVID (Tom Shoval, Israel 2025)
Ein filmischer „Brief” an einen geliebten Menschen, der bis heute Geisel der Hamas ist und zugleich ein Film über die Möglichkeiten des Kinos – als Medium der Vergegenwärtigung, der Anrufung, der menschlichen Verbindung. David Cunio war Darsteller in Shovals Debütfilm YOUTH, und hat dort zusammen mit seinem Zwillingsbruder Eitan ausgerechnet einen Entführer gespielt. Der Bruder ist den Häschern der Hamas zufällig entgangen, und sieht in jedem Spiegel den Abwesenden. Es sei ein Film auch über die „vampiristische Wirklichkeit, die an der Fiktion saugt” (wörtlich: „reality's capacity to vampirise fiction") schrieb die Kritikerin Cristina Álvarez López und trifft einen wichtigen Punkt: Jede Geschichte macht etwas denkbar, zeichnet Wirklichkeit nicht nur nach, sondern bahnt sie auch an. Indem wir David dabei zusehen, die Szene einer Entführung einzuüben, können wir über das Menschenmögliche nachdenken, das was geschehen ist und das, was vielleicht noch geschehen wird. Tom Shovals Blick der Liebe traut dem Kino viel zu, und meidet gerade deshalb jede Politisierung: auf dass ein Mensch sichtbar wird.
HENRY FONDA FOR PRESIDENT (Alexander Horwath, Österreich 2024)