06 Mai, 2024

Legalistisches Regime

Wir drehen eine Totale. Unser „Spiel”-Fahrzeug fährt von links nach rechts, wirbelt Staub auf, parkt. Die Hauptcharaktere steigen aus. Beim ersten Take dauert das Aussteigen zu lang. Noch mal. Plötzlich sind tief im Bild, auf einem angrenzenden Sportplatz, Kinder zu sehen, die Ball spielen. Ich freue mich über die „Störung”. Die Kinder durchkreuzen die Kontrolle der Fiktion, beglaubigen das Bild. Auf der Leinwand wären die beiden winzig. Unmöglich, sie zu erkennen. Und doch bricht der Setaufnahmeleiter die Aufnahme ab und gibt über Funk Anweisung, die Kinder zu vertreiben. Weil wir „keine Rechte” haben. Ich brause auf (wie ich es selten tue), frage, warum er mein Bild zerstöre? Der Set-AL ist sich keiner Schuld bewusst, im Gegenteil. Es sei seine Aufgabe, Schaden von der Produktion abzuhalten. 

Die Kamera folgt zwei Freundinnen, die über eine Einkaufsstraße schlendern, in einen Parfümladen gehen und zum Vergnügen Düfte probieren. Eine kleine Vignette. Nun haben wir eine Drehgenehmigung für den Laden und die Straße. Nicht aber für die in Privatbesitz befindliche, öffentlich jederzeit zugängliche Passage, über die man den Parfümladen betritt. Grund sind Bedenken mehrerer angrenzender Läden, dass der Film ihren Markenauftritten Schaden zufügen könnte. Wir müssen versprechen, die anderen Läden aus dem Bild zu halten. In der (in öffentlichem Besitz befindlichen) Straße, für die wir eine Genehmigung haben, befinden sich teure Läden weltberühmter Marken, die ebenfalls versuchen zu verhindern, dass wir sie ins Bild nehmen. Man müsse das mit der Konzernzentrale in Paris oder Mailand abklären. Wohl gemerkt Läden, die keine Rolle für unseren Film spielen, wahrscheinlich gar nicht erkennbar sein werden, weil sie bloßer Hintergrund sind. Wir drehen die Szene trotzdem, aber die berühmten Marken „behalten sich rechtliche Schritte vor”.

Wir wollen eine Szene nachts im Park drehen. Ursprünglich spielte die Szene in einem Krankenhaus, aber aus verschiedenen Gründen findet sich kein Krankenhausmotiv, weshalb wir die Szene auf einen Park umschreiben – im Glauben, die Szene so zu vereinfachen. So kann man sich täuschen. Zwar finden wir bald geeignete Motive in Köln, aber eine Genehmigung wird nicht erteilt, aus Gründen des „Insektenschutzes”. Man bedeutet uns, dass das für alle Kölner Parks gelte. Wir weichen auf eine andere Stadt aus, 1 Stunde entfernt, was von unserer Drehzeit abgeht.

Wir wollen nachts auf einer Autobahnraststätte drehen. Die entsprechende Behörde untersagt das für das ganze Bundesland NRW, weil wir die Ruhezeiten der LKW-Fahrer stören könnten. Dass die Autobahn um ein vielfaches lauter ist als unsere Dialogszene, ficht die Behörde nicht an. Und dass die Raststätte ohnehin beleuchtet ist und wir nicht im Bereich der LKW-Parkplätze drehen wollen, auch nicht. Wir müssen auf einen Privatparkplatz ausweichen, der leider auch so aussieht.

Ein Bündnis von Tiefgaragen-Besitzern, das in Deutschland 80 % des Marktes kontrolliert, möchte dem „falschen Eindruck entgegenwirken, dass Tiefgaragen Orte des Verbrechens” seien. Deshalb wird grundsätzlich keine Drehgenehmigung für Szenen gegeben, die Kriminalität thematisieren. Wir finden schließlich eine „freie” Tiefgarage.

Für eine Szene wünsche ich mir einen Fußballfan, da wir in Frankfurt sind, im Trikot von Eintracht Frankfurt. Aber, erfahre ich, das sei problematisch. „Wir haben keine Rechte”. Der Versuch, sie abzuklären, bleibt ohne Ergebnis. Die Kostümabteilung schlägt vor, ein fiktives Fußballtrikot zu erstellen – nicht Eintracht, sondern nur mit vager Ähnlichkeit. Es ist lächerlich, ich bestehe auf dem Eintracht-Logo, schließlich ist der faule Kompromiss, den Adler auf ein neutrales Shirt zu nähen. 

Kleine Hommage an BOB LE FLAMBEUR: unsere fiktive Zigarettenmarke.

Jede Bierflasche, jedes Medikament, jede Zigarettenmarke wird durch teuer hergestellte Dummies ersetzt, durch fiktive Marken, die für den Film entworfen werden (an der Zigarettenmarke zumindest hatte ich Spaß, siehe oben). Jedes Poster, das in einem Zimmer oder „bildwichtig” im öffentlichen Raum hängt, muss abgeklärt werden. Es sei unabdingbar, die „Rechtekette” zu kontrollieren, heißt es immer wieder.

Auch Passanten reagieren heute ungemein empfindlich auf die Möglichkeit, Teil eines Medienbildes zu werden. Während die Leute online als Datenschleudern Intimstes bewusst oder unbewusst mit der ganzen Welt (und Social Media Konzernen) teilen, wird die Anwesenheit einer Kinokamera im öffentlichen Raum schnell als bedrohlich angesehen. Und weil es deshalb gelegentlich Klagen gegeben hat, ist es heute üblich, selbst für vollkommen harmlose Szenen – Figur X überquert die Straße – Komparsen zu bezahlen, die regelmässig auch aussehen wie Komparsen: Unterdeterminiert & übereifrig.

Beispiele eines zunehmend verrechteten öffentlichen Raumes, der den Film mit seltsamen Fiktionen belastet. Spontanität und dokumentarische Anteile im Spielfilm werden auf ein Minimum reduziert. Aber wem nützt das?

30 April, 2024

Grenzgänger

Notizen zu Tankred Dorsts EISENHANS.


Etwas drückt aus der Unterwelt herauf, zerbricht den rationalen Fliesenboden der Bundesrepublik. Die Vergangenheiten wollen fließen, dürfen nicht, aber der Mythos ist stärker, unterspült den Alltag. Vielleicht ist das die Klage des Films: dass die Sphären nicht zu versöhnen sind. Schon der Übertritt ist konfliktreich. Es braucht unbändige Kraft, zwischen den Welten zu wandeln. Selbst Hans „Eisenhans“ Schroth (Gerhard Olschewski) ist nicht stark genug. 

Dabei gab es eine Zeit, in der er, mit schierer Kraft, soziale Schranken überwinden konnte. Aber die Verhältnisse haben sich geändert. Die körperliche Stärke ist überflüssig geworden, das üppige Muskelfleisch, das er auf den Rippen hat, provoziert Abwehr und Verdacht, zunehmend auch bei seinem Jugendfreund Feininger (Hans Michael Rehberg), Besitzer der örtlichen Brauerei und sein Arbeitgeber, und dessen neuer Partnerin Ingrid (Angelika Milster).

„Die Leute reden immer.” sagt Schroths Frau (Hannelore Hoger), als man sie mit den Vorwürfen konfrontiert. „Wer lebt, stört” könnte man in Klammern setzen, das trotzige Motto des Autorenduos Tankred Dorst und Ursula Ehler. Das Gerede der Leute dreht sich um die, die anders ist: Marga (Susanne Lothar), die stehen- oder zurückgebliebene Tochter. Die Zurückweisung kränkt ihren Vater, trifft ihn ins Herz. Für ihn ist sie verzaubert, eine Prinzessin, „mit Diadem”. Herrscherin über das Zwischenreich? Der Film scheint anzudeuten, dass sie die Einzige ist, die sich zwischen Mythos und Alltag bewegen kann. Wenn die jungen Männer nicht mit ihr tanzen wollen, tut es ihr Vater. Und weil es nicht beim Tanzen bleibt, reden die Leute.

Eine Inzest-Geschichte? Auch. Es geht um die Grenze, als eine schwärende Wunde. Zwischen Deutschland und Deutschland. Zwischen Blutsverwandten. Wäre es nicht natürlicher, sie einzureissen? Warum müsste man sie sonst bewachen? Es geht darum, was es heißt, stark zu sein. In einer faszinierenden Bilderfindung verwandeln sich Eisenhans und Tochter einmal in einen Riesen, einen Rübezahl. Sie sitzt auf seinen Schultern, der Rock hängt ihm über das Gesicht, ihre Arme führen den Stock. Vater und Tochter sind zu einer Monstrosität verwachsen.

Der Film ist überhaupt reich an expressiven Einfällen. Als Eisenhans und seine Tochter blödelnd (und, wie der Rest des Films, in schwarzweiß) ums Dorf ziehen, leuchten die Fernseher in den Stuben in Farbe. Die Unterhaltung der Dörfler ist Unterbrechung, Traum. Chorus-Girls und Zirkuspferde in rot beleuchteter Manege, reine Künstlichkeit. Nicht nur wenn Eisenhans seiner Marga die Leiche im Wasser zeigt, grüßt THE NIGHT OF THE HUNTER herüber. Dorst und Jürgen Jürges an der Kamera ziehen alle Register. Gelegentlich kommen als Splitter des Möglichen, wenige Frames lang, unbewegte Fotografien ins Spiel. Dann wieder sehen wir Marga als Engel durch den Schnee ziehen.

Sie ist aber auch in der hiesigen Welt kein hilfloses Opfer. Der Film zeigt sie als eine, die selbstbewusst mit ihrer erwachenden Sexualität spielt. Dass die Männer, darunter der lüsternde, mit seiner Lebensuntüchtigkeit seltsam prahlende Gnom „Habek” (Michael Habeck), oder der Möbelvertreter (Dieter Augustin) Interesse zeigen an ihrem Dreieck, scheint ihr zu gefallen. Aber immer ist da das Unbehagen, zu was die Männer, die Menschen fähig sind, wenn sie einmal „ungehalten“ sind.

Auch Eisenhans gerät bald ins Zwielicht. Die Kraft spukt in ihm; weil die Welt nicht willig ist, braucht er Gewalt. Gegen die Couch-Garnitur, mit der seine Frau Anschluss finden will an die Moderne. Und gegen seine Frau, die sich gegen ihn verbarrikadieren muss. Gegen den Gartenzaun, der ihn von Feiningers Hochzeitfeier trennt und zu der er zu seiner Enttäuschung nicht eingeladen wurde (eine Lieblingsszene). Und gegen und für Marga, die Grenzen verwischend. Es ist die Geschichte eines Zerfalls. Immer wieder bricht etwas. „An diesem Schnittrand unseres Landes bröckeln die Häuser ab, knicken die Bäume ein, zerfallen die Straßen wie am Ende der Zeit.” (Dorst)


EISENHANS hat 1983 in der Quinzaine in Cannes Premiere gefeiert, sowohl Gerhard Olschewski als auch Susanne Lothar haben für ihre Darstellung den deutschen Filmpreis gewonnen, aber der Film hat nie die Sichtbarkeit erreicht, die ihm meiner Meinung nach zusteht. Er ist bis heute nicht auf DVD/BluRay oder Stream erschienen oder sonst irgendwie legal verfügbar – ein großes Versäumnis, denn die verwunschenen Bilder und Erfindungen des Films fehlen dem Gedächtnis des deutschen Kinos.

25 April, 2024

(Anti-) Thesen zum deutschen Kino


Ja, das deutsche Kino hat sich von „Arisierung“, Vernichtung und Krieg nie mehr ganz erholt. Nein, um die ins Exil Gezwungenen wurde nach dem Krieg nicht geworben. Auch eine Geste der Wiedergutmachung gab es von Seiten der deutschen Filmindustrie nie. 

Nein, auch die wenigen Filme der Rückkehrer waren nicht willkommen. Ja, die meisten Naziregisseure konnten ihre Karrieren nahtlos fortsetzen, darunter auch Veit Harlan, Regisseur von JUD SÜSS

Der Nachkriegsfilm kannte Höhen und Tiefen, aber anders als im Weimarer Kino oder in den USA und Frankreich waren die künstlerischen Höhen kaum mehr deckungsgleich mit den kommerziellen. 

Nein, in den 1950ern gab es nicht nur „Heimatfilme“, und durchaus nicht alle Filme dieses Genres waren schlecht. 

Nein, das DEFA-Kino musste sich nicht hinter der West-Produktion verstecken. Ja, es stimmt leider, dass in der DDR nie bessere Filme gemacht wurden, als die, die man verboten hat. Trotzdem ist der DEFA-Durchschnittsfilm eher besser als schlechter als die Durchschnittsware aus dem Westen gewesen. Ja, das hat mit Handwerk und Studiosystem zu tun. 

Nein, die Oberhausener haben „Papas Kino“, den kommerziellen (west-) deutschen Film, nicht umgebracht. Eher haben sie seinen Tod festgestellt. Nein, die Oberhausener haben mit Verkündung des Manifests nicht die Macht ergriffen. Die Karrieren der allermeisten Unterzeichner blieben marginal. 

Nein, die politique des auteurs hat mit dem deutschen Autorenfilm, der Personalunion von Drehbuch und Regie, nichts zu tun. Das war einfach nur billiger. 

Nein, das Genrekino war den Protagonisten des „Jungen Deutschen Films“ nicht fremd. Im Gegenteil gab es zahlreiche Versuche, von Schlöndorff bis Herzog, von Geissendörfer bis Fassbinder. Eher war die Publikumsbasis dieser Tradition verloren oder ins Fernsehen abgewandert. 

Nein, das Kino der „Münchner Gruppe“ (oder von Roland Klick) wurde nicht von Kluge & Co verhindert. Nein, ein Kino, das sich als kommerziell versteht, aber nicht zum Publikum findet, braucht keine Feinde. 

Nein, der deutsche Autorenfilm ist nicht an „Onanie“ gescheitert. Er wurde zum Zeitpunkt seines größten Erfolges durch filmpolitische Weichenstellungen („geistig moralische Wende“, Einführung des Privatfernsehens) abmoderiert. 

Nein, die Tatsache, dass die (im internationalen Vergleich) vielen deutschen Regisseurinnen dieser Zeit noch schneller in der Versenkung verschwunden sind, hatte nichts mit der Qualität ihrer Filme zu tun, sondern mit sexistischen Strukturen, die bis heute nachwirken. 

Ja, Syberberg wurde ausgelacht für seine Forderung, die DEFA zu erhalten und dafür eine Berliner Oper zu schließen. Nein, die ostdeutschen Regisseure waren nicht willkommen im wiedervereinigten Deutschland. Ja, sie wurden mit wenigen Ausnahmen ins Aus gedrängt. 

Nein, in den 90er Jahren gab es nicht nur Komödien. Nein, nicht alle Komödien waren schlecht. 

Nein, die „Berliner Schule“ ist kein Verein, keine feste Gruppe, keine stilistische Verabredung, sondern ein Etikett der Filmkritik. Ja, auch deshalb ist es sinnlos, sie zu hassen. 

Nein, die Oscars und Beinahe-Oscars sind kein Zeichen einer Besserung. 

Nein, Kino ist kein Entweder-Oder. 

Ja, der deutsche Film ist immer in der Krise. Weil wir immer wieder reinen Tisch machen? 

Nein, das Glas ist halbvoll.

21 April, 2024

Im Rückspiegel


Wenn ein Film fertig ist, bin ich in Gedanken beim nächsten Projekt. Ich schaue nicht gerne zurück, will nichts bereuen, nicht zu viel darüber nachdenken, was man anders hätte machen sollen. Jeder Film hat ein Datum und zu jedem anderen Zeitpunkt hätte der Film anders ausgesehen: Dieses Mantra stellt den Zweifel still.

Ich sehe mir meine Filme nach Fertigstellung nicht wieder an, weil ich sie bis dahin hundertmal gesehen habe, während des Schnitts, im Sounddesign, in der Mischung. Aber vielleicht ja auch deshalb nicht, weil ich an eine Entwicklung glauben will. Die Illusion, man könnte von Film zu Film wie auf einer Stufenleiter gehen, höher, weiter, näher ans Licht, hilft mir am Morgen aufzustehen.


Als UNTER DIR DIE STADT zu Gast war bei „Frankfurt schaut einen Film” – acht Frankfurter Kinos zeigten den Film am 17. März 2024  – habe ich eine Ausnahme gemacht. Ich hatte ihn seit seiner Premiere in Cannes 2010 nicht wiedergesehen.


Um gleich Farbe zu bekennen: es war schön. Weil der Film schön ist. So klar hatte ich das damals nicht erkennen können. Mein Blick war nicht mehr verstellt von den Plänen, dem Wissen um bestimmte Widerstände, den Phantomschmerzen in Bezug auf gestrichene Szenen. An diesem Vormittag endlich sah ich mehr als die Summe der Teile, und ich bin dankbar für diese Erfahrung.


Mich hat überrascht, wie ambitioniert die Erzählung ist – und wie vielen ihrer Ambitionen sie gerecht wird. Nein, natürlich nicht allen. Damals hatte ich enttäuscht geschrieben: „Jeder Film die Ruine seiner Ambition.” Aber so wie die Skizze oft mehr verspricht als das Gemälde …so ergänzen wir die Ruine zu einer größeren Vergangenheit gewissermaßen. 


Es ist nicht leicht, seinem jüngeren Ich ins Auge zu sehen, aber falls man dem Blick standhalten kann, erkennt man Unterschiede. Ich bin erschrocken über das Selbstvertrauen von damals. Womöglich bin ich heute empfindlicher für Einwände, für Wünsche eines Publikums? Vielleicht ist das Fell fünfzehn Jahre später nicht mehr so dick? Jedenfalls habe ich Lust bekommen, in den nächsten Filmen mehr zu wagen, im Sinne eines Kinos, das neu ist, namenlos, und gefährlich für den Status Quo.

09 April, 2024

„Bis ans Ende der Nacht” @ MUBI



Meinen Film BIS ANS ENDE DER NACHT kann man ab 12.04.2024 auf MUBI streamen.

Daniel Kasman schrieb in seinem Berlinale-Bericht auf MUBI Notebook:

„Compellingly dense in story and style, it also has a tight-fisted atmosphere created by the gorgeous, gray-shaded, and layered cinematography. This is a reminder of what a cinema-steeped director like Hochhäusler (...) can do: You can't but feel the norms of cinema being tweaked and torqued under his sharp gaze.”

29 März, 2024

Gespräch über neue Kinoarchitektur

Am Mittwoch, den 17.04.2024 um 12 h moderiere ich ein Gespräch über neue Kinoarchitektur: Kinos bauen, Europa bauen – Zur Zukunft europäischer Kinobauten” auf dem Kongress „Zukunft Deutscher Film” * im Rahmen des LICHTER Filmfest in Frankfurt am Main. 

Zu Gast sind die Architekten Hugo Herrera Pianno (Baumschlager Eberle Architekten), verantwortlich für das Europejskie Centrum Filmowe Camerimage in Torun / Polen (2025) und Dietmar Feistel (Delugan Meissl Associated Architects), verantwortlich für Haus für Film und Medien in Stuttgart (2027) sowie übrigens auch für das stilprägende EYE in Amsterdam (2011)

Herausragende Beispiele eines neuen Bauens für das Kino oder genauer gesagt – und über diese Differenzierung wird zu sprechen sein – für öffentliche Kinoinstitutionen. Ich bin gespannt!

Visualisierungen für das Festivalzentrum Cameraimage, Torun (2027, oben)
sowie für das Haus für Film und Medien, Stuttgart (2025, unten). 
 

Sehr zu empfehlen: Die Kongress-Brochüre „Theory of Cinema” (PDF), mit einer ganzen Reihe interessanter neuer Kinoarchitekturen, darunter natürlich auch die oben genannten Projekte, die man kostenlos downloaden kann.

*) Veranstaltungsort ist das Festivalzentrum (Plenum), Eschersheimer Landstraße 28, Frankfurt am Main.


Update: Inzwischen kann man das Gespräch auf dem YouTube-Kanal des Festivals nachholen.

21 März, 2024

Position @ Diagonale

Gute Nachrichten: Die kommende Diagonale in Graz (4.-9.04.2024) wird mir eine „Position” widmen, eine Werkschau, auf der alle meine Langfilme (sowie zwei Kurzfilme) zu sehen sein werden, zum Teil in neu restaurierten Fassungen. Die meisten Vorführungen werde ich persönlich begleiten. Esther Buss' sehr schöner Einführungstext findet sich hier. Über die einzelnen Filme schreiben kenntnisreich neben Esther Buss (FALSCHER BEKENNER), Philipp Stadelmaier (FIEBER, EINE MINUTE DUNKELBIS ANS ENDE DER NACHT) und Michael Pekler (SÉANCE, MILCHWALD, UNTER DIR DIE STADT, DIE LÜGEN DER SIEGER). Außerdem wird der Berliner Filmkritiker Andreas Busche (im Anschluss an die Vorführung von BIS ANS ENDE DER NACHT) ein „Nachspann” betiteltes Werkstattgespräch mit mir führen. Und weil Revolver seit über 25 Jahren Teil meines filmischen Wirkens ist, werden wir in Graz auch ein Revolver Live! mit dem Kameramann Jürgen Jürges machen (Nicolas Wackerbarth und ich führen das Gespräch).

Vielen Dank für die Einladung, Dominik Kamalzadeh & Claudia Slanar


Termine:   

05.04., 10.30 h,  FALSCHER BEKENNER (2005) @ Schubert Kino 1. Filmgespräch moderiert von Daniel Moersener.

06.04., 17.30 h,  BIS ANS ENDE DER NACHT (2023) @ Schubert Kino 1

Daran anschließend, als „Nachspann”, ein Werkstattgespräch, moderiert von Andreas Busche.

07.04., 14 h, Revolver Live! (62): Jürgen Jürges – zugewandte Zeugenschaft 

07.04., 17.30 h, SÉANCE (2009) + DIE LÜGEN DER SIEGER (2014) @ Rechbauer Kino. Filmgespräch moderiert von Sven von Reden.

08.04.,17.30 h, FIEBER (1999) + MILCHWALD (2003) @ Schubert Kino 1. Filmgespräch moderiert von Bert Rebhandl.

08.04., 20 h, UNTER DIR DIE STADT (2010) @ KIZ Royal Kino 1. Filmgespräch moderiert von Sven von Reden.


09.04., 11 h, DREILEBEN – EINE MINUTE DUNKEL (2011) @ Schubert Kino 1.

Stand: 21.03.2024

Revolver Live! (62): Jürgen Jürges – Zugewandte Zeugenschaft


Jürgen Jürges (*1940 in Hannover) gehört ohne Zweifel zu den größten Bildgestaltern des europäischen Kinos; gleichzeitig ist er dem breiten Publikum weitgehend unbekannt. Das hat mit seiner leisen Art zu tun, aber womöglich auch mit der ungewöhnlichen Vielfalt seiner Filmographie. Jürges war nie einer, der sich auf Markenzeichen hätte festlegen wollen, immer wieder hat er sich auf neue Setzungen, Sichtweisen und Erzählstile eingelassen. Von Rainer Werner Fassbinder (mit dem er vielfach zusammen gearbeitet hat, darunter bei Angst essen Seele auf und Fontane Effie Briest) bis Michael Haneke (u.a. Funny Games und Code Inconnu), von Wim Wenders (In weiter Ferne so nah!) bis Uli Edel (Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo), von Tankred Dorst (Mosch, Eisenhans) bis Ilya Khrzhanovsky (Dau Zyklus), von Roland Klick bis Andreas Kleinert, von Helma Sanders-Brahms bis Robert van Ackeren usw. Was die Arbeiten bei aller Unterschiedlichkeit verbindet ist vielleicht so etwas wie eine zugewandte Zeugenschaft, ein dokumentarisches Ethos, das die Fiktion durchdringt und beglaubigt. Wir freuen uns, mit Jürges am konkreten Beispiel einiger ausgewählter – und stilistisch höchst unterschiedlicher – Projekte über seine Arbeitsweise(n) zu sprechen. 

Christoph Hochhäusler, Nicolas Wackerbarth 


Am Sonntag, den 07.04.2024 um 14 h im Diagonale Forum (Heimatsaal im Volkskundemuseum Graz) im Rahmen der Diagonale. Eintritt frei.


P.S.: 

Zwei Filme, die Jürgen Jürges fotografiert hat, werden außerdem in voller Länge auf Leinwand zu sehen sein, projiziert von 35 mm: Am 06.04.2024 um 17:30 h CODE INCONNU (Regie: Michael Haneke, 2000) im Rechbauer-Kino sowie am 07.04.2024 um 11 h EISENHANS (R: Tankred Dorst, 1983) im Schubertkino 1, den Jürges zu seinen persönlichen Lieblingsfilmen zählt.



© Emely Timm



Jürgen Jürges

Geb. 1940 in Hannover. 1961 Photografische Ausbildung an der Letteschule in Berlin. Diplom. Bis 1963 Kameravolontär bei Hans-Jürgen Pohlands „art film GmbH“. Ab Mitte der 1960er Jahre Kameraassistent u.a. bei Volker Schlöndorffs Der junge Törless (1966) und Mord und Totschlag (1967). Ab 1970 als Chefkameramann tätig. Er arbeitet in Folge mit einigen der wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Films (Rainer Werner Fassbinder, Reinhard Hauff, Wim Wenders, Helma Sanders-Brahms). Filme wie Die Zärtlichkeit der Wölfe (Uli Lommel, 1973), Angst essen Seele auf (RWF, 1973), Fontane Effi Briest (RWF, 1974), Satansbraten (RWF, 1975, nur 1. Drehabschnitt), Paule Pauländer (Hauff, 1976), Deutschland bleiche Mutter (Sanders-Brahms, 1980) entstehen in der Zeit. Deutscher Filmpreis / Beste Kamera 1980 für die Arbeit an Kückelmanns Die letzten Jahre der Kindheit (1979). In den 1980er Jahren fächerte sich Jürges‘ Kameraarbeit noch weiter auf: Von Uli Edels Reportage-Reißer Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1981), über die große Künstlichkeit in Robert van Ackerens Beziehungsdrama Die flambierte Frau (1983), zu Arend Agthes impressionistischen Kinderabenteuerfilmen Flußfahrt mit Huhn (1985) und Der Sommer des Falken (1988) oder auch dem Schimanski-Kinofilm Zahn um Zahn (Hajo Gies, 1985). 1986 Deutscher Kamerapreis für das Fernsehspiel Die Wupper (Regie: Jürgen Flimm) sowie 1988 für Eisenerde Kupferhimmel (Regie: Zülfü Livaneli). 1994 Deutscher Filmpreis / Beste Kamera für In weiter Ferne, so nah! (Regie: Wim Wenders), 1999 für Wege in die Nacht (Regie: Andreas Kleinert). Mit Michael Haneke: Funny Games (1997), Code inconnu (2000) und Wolfzeit (2002). Im Rahmen von Ilya Khrzhanovskys monumentalen Dau-Projekt entstehen über einen Zeitraum von 10 Jahren mehr als ein Dutzend Spielfilme, für die Jürges die Bildgestaltung übernimmt, darunter Dau: Natasha, für den er 2020 einen Silbernen Bären für die beste Kamera gewinnt. Im Rahmen der Bild-Kunst Kameragespräche wurde Jürges im März 2016 der 16. Marburger Kamerapreis für herausragende Bildgestaltung im Film verliehen. Den Deutschen Filmpreis für sein Lebenswerk erhielt er 2022.

19 März, 2024

Dialogische Arbeit

Über das Schreiben mit Ulrich Peltzer (2012).

„Die Geschichte lehrt, aber sie hat keine Schüler” heißt es bei Bachmann (Malina) – einer jener „schlagenden” Sätze, die man für wahr hält, obwohl oder weil sie der Erfahrung ganz entzogen sind. Für die Filmgeschichte scheint das Gegenteil zu gelten. Allenthalben Schüler, Lernwillige, ewige Studenten, die die Filmgeschichte nach Brauchbarem abklopfen, die Regeln herauszulesen suchen, und Regelmässigkeiten, bis sie von der nächsten Seherfahrung wieder umgeworfen werden. 

Den Genrebeschwörungen (und den vielen Metern Beratungsliteratur) zum Trotz: Jede Dramaturgie ist experimentell. Das ist die Quintessenz unserer Zusammenarbeit, Ulrich Peltzers und meiner. Wir schreiben zusammen, buchstäblich, das heißt wir sitzen einander gegenüber, Ulrich meistens am Rechner. Er tippt, liest vor, hört sich meine Vorschläge an, lässt sich diktieren, weist Sätze zurück oder wägt sie ab, hört sich meine Argumente an, argumentiert dagegen. Es ist eine dialogische Arbeit. 

Wichtig ist, einen Vorschlag zu hören. Ihn widerzugeben. Immer wieder entspinnen sich weitreichende Diskussionen: ästhetische, politische, persönliche, angeregt von einem Dialog, einer Szenenidee – wer würde so etwas tun oder sagen? Mitunter nehmen diese Gespräche einen größeren Raum ein als die „Arbeit”. Immer wieder befragen wir das Netz, Wikipedia, Youtube, die Filmgeschichte, sehen uns Szenen an, lesen in bewunderten Büchern oder Drehbüchern – „Wie haben es die anderen gemacht?” – um dann unseren eigenen Weg zu gehen. 

Es sind Gedankenreisen mit Einträgen ins Logbuch, als Basis für Dreharbeiten, die den Text „restlos” verzehren sollen, um selbst „Text” zu werden. Für einen Schriftsteller ist das Drehbuchschreiben also eine Zenübung, ein „Werk” bleibt nicht übrig, ja im Zweifel sieht die Öffentlichkeit im Regisseur den Autor, später. Vielleicht ist unsere Zusammenarbeit deshalb so heiter? 

Zweifel gibt es auch. Immer wieder betreffen sie Konstruktionsfragen. Wie fädelt man eine Geschichte ein? Was ist glaubwürdig? Was anschaulich? Entlang dieser Naht passieren die meisten Korrekturen. „Die Handlung als einen Bogen begreifen, der die Charaktere so in Spannung bringt, dass sie kenntlich werden. Im Relief der Bewegungen, Gesten und Worte ein dreidimensionales Bild entstehen lassen.” So habe ich mein filmisches Ideal einmal beschrieben. Aber mit Idealen kann man nicht arbeiten. 

Eher ist es so, dass man sich auf ein Material einlässt, einer Neugier folgt, die unerklärlich ist – um später dann, in einer Phase der Kritik, auf das Ideal zurückzukommen. Nicht um alles zu ändern. Eher um staunend das eigene Scheitern zu vermessen. Jeder Film ist die Ruine seiner Ambition. Das gilt natürlich auch für das Drehbuch. Zwei Bücher haben wir bisher zusammen geschrieben. Das neue Buch soll bald „verzehrt” werden. Ich bin gespannt auf die nächste Reise. 


(Den Anlass für den Text erinnere ich nicht mehr genau. Inzwischen haben Ulrich Peltzer und ich übrigens vier Drehbücher verfasst: UNTER DIR DIE STADT (2010), DIE LÜGEN DER SIEGER (2014), DER TOD WIRD KOMMEN (2024) und, noch unverfilmt: ICH HAB' DICH LÄCHELN SEHEN. Ein fünftes Projekt ist in Sicht.)

18 März, 2024

(Wieder-) Gesehen [21]

THE INTRUDER (Roger Corman, USA 1962)


Ein Mann in strahlend weißem Anzug kommt in eine Kleinstadt, um sie einzuseifen. William Shatner spielt den Rassisten „Adam Cramer” als fiebrig-kalten Verführer, der die eigenen Defizite in der Wirkung auf andere korrigiert sehen will. Besonders im Gedächtnis bleibt mir die Entzauberung des Demagogen durch den Mut eines „einfachen” Mannes, mit überraschenden Zwischentönen gespielt von Leo Gordon. Der Film ist, für Corman ungewöhnlich, der Versuch einer direkten politischen Intervention, inmitten einer vom Ende der Segregation aufgewühlten amerikanischen Gegenwart, und gehört angeblich zu Cormans größten kommerziellen Misserfolgen – was noch einmal ganz andere Fragen aufwirft.


BELLE (Mamor Hosoda, Japan 2021)


Die Welt wartet noch immer auf einen Film, der jenen wachsenden Teil unseres Lebens, den wir online verbringen, auf den Punkt bringt. Dieser Film ist ziemlich nah dran, finde ich. Nie jedenfalls habe ich das digitale „Wir” zwischen warmer Dusche und Lynchmob überzeugender erlebt.


HER (Spike Jonze, USA 2013)

Science Fiction ist ja notwendig Spekulation, die die Gegenwart verlängert. In diesem Fall geht das auf, finde ich, zehn Jahre später kann man sagen: die Zukunft, die heute unsere Gegenwart ist, hat vielsagende Berührungspunkte mit dieser Fiktion, in der die „Affäre” mit einer künstlichen Intelligenz (Scarlett Johansson) in intimere Seelenwinkel vordringt, als es dem professionellen Briefeschreiber „Theodore” (Joaquin Phoenix) gegenüber und mit Menschen möglich ist.


WENN DIE KRANICHE ZIEHEN (Michail Kalatosow, UdSSR 1957)

Beim Wiedersehen hat mich die meisterhaft „entfesselte” Kamera noch mehr und die Liebesgeschichte etwas weniger beeindruckt – sie kam mir jetzt seltsam unspezifisch vor und ist dadurch natürlich besonders offen für Projektionen eines sehnenden Publikums. Aber wie die Kamera zaubert!

ONCE UPON A TIME IN ANATOLIA (Nuri Bilge Ceylan, Türkei 2011)

Ein Film, der sich über seine lange Laufzeit verjüngt, der immer lebendiger und dringlicher wird und den Zuschauer am Ende eine ganze Welt bewohnen lässt. Ein Meisterwerk, das ich nach der ersten Stunde noch nicht habe kommen sehen, was nicht heißen soll, dass die erste Stunde enttäuscht, sondern nur, dass ich Abstand gewinnen musste von meinem Alltag, entlang langer gewundener Straßen, bis ich bereit war.

THE WILD PEAR TREE (Nuri Bilge Ceylan, Türkei 2018)

Ich war immer der Meinung, dass Zeigen seliger denn Reden sei im Kino, aber hier ist das anders. Die tour de force der (größtenteils verbalen) Konfrontation zwischen dem etablierten Autor und dem arroganten jungen (Anti-) Helden zum Beispiel dauert „endlose” acht Minuten, aber entwickelt eine Intensität, die über die eines üblichen Film-Dialogs weit hinausgeht. Und dann ist da noch die Begegnung mit der Frau, die heiraten wird, und die ihn zu seiner Überraschung erwählt, die schon besiegelte Abzweigung einen Moment lang aufzuheben. Diese Szene der sich aufbäumenden Lust am Leben, das Haar im Wind, zwischen Süße und Bitterkeit, ist herzzerreissend.

TOKYO YAKYOKU (Jun Ichikawa, Japan 1997)

Mit leichter Hand skizziert Jun Ichikawa eine Fülle kleiner, alltäglicher Momente, die sich nach und nach zu einem schwebenden Panorama verpasster Chancen fügen. Traurig und schön.


KILLERS OF THE FLOWER MOON (Martin Scorsese, USA 2023)

Beinahe so etwas wie ein Comeback für Scorsese; ein Film, der thematisch und visuell neue Herausforderungen sucht und sich nicht (wie zuletzt THE IRISHMAN) mit Eigen-Pastiche zufrieden gibt. Es entsteht das detailreiche Bild einer Gesellschaft, in der die Gier – wie es in dem schönen Teaser heißt – „ein Tier” ist, „das nach Blut durstet”, und Gewalt und Rassismus weniger als „Ursünde” denn als Standard-Betriebssystem des amerikanischen Kaptalismus' kenntlich werden.

COUP DE TORCHON (Bertrand Tavernier, F 1981)

Entgrenzung als Programm: Wenn es niemanden gibt, dem man Rechenschaft schuldig ist, warum dann noch mühsam den Firnis der Zivilisation nachpinseln? Für „Lucien Cordier” (Phillippe Noiret in seiner besten Rolle) gibt es kein Halten mehr, als er – einer plötzlichen Eingebung folgend – versteht, dass er die Demütigungen, die er bis dahin geduldig ertragen hat, auch erwidern kann. Im Irgendwo Französisch-Westafrikas, am Vorabend des 2. Weltkriegs, nimmt er sich fortan alles heraus, was ihm zupass kommt, von Sex bis Mord. Seine unmoralische Ermächtigung ist rasend komisch, haarsträubend grausam und gerade in seiner befreiender Wirkung verstörend.


IL SORPASSO (Dino Risi, Italien 1962)

Eine Ehrenrettung des Angebers? Ein Lob der Dreistigkeit? In jedem Fall bringt die Figur des „Bruno Cortona”, die Vittorio Gassmann hier mit Gusto spielt, den Film, unsere brave Stellvertreterfigur „Roberto” (Jean-Louis Trintignant) und auch das weitere Personal des Filmes groß in Fahrt. Bruno hupt, beschleunigt, überholt, macht sich über alles und jeden lustig (sogar Antonioni!), aber natürlich entstehen mit der Beschleunigung Fliehkräfte... die zunächst vor allem auf Roberto wirken, der seine Lebensabwehr, als Vernunft getarnt, zu hinterfragen beginnt. Eine temporeiche Komödie, ja, (der deutsche Titel will es dabei belassen: „Verliebt in scharfe Kurven”) aber die „Strecke” wird nach und nach brüchiger, der Humor doppelbödiger, und konsequenter Weise endet der Film im Schrecken.


VERBRANNTE ERDE (Thomas Arslan, D 2024)

Kein Gramm Fett – die Ökonomie dieser Genre-Erzählung ist beinahe schmerzhaft, was zu den verengten Spielräumen der Hauptfigur „Trojan” (Mišel Matičević) passt, 14 Jahre nach dem ersten Auftauchen in Arslans IM SCHATTEN. Gleichzeitig hat die Effizienz nichts mit dem gedankenfaulen Primat des Erzählens zu tun, wie wir es aus vielen Serien kennen, sondern interessiert sich für Handlungen, die die Haltung der Figuren auf den Punkt bringen. Gelegentlich hat das Züge eines bresson'schen Gestenspiels, entleert und modellhaft, dann wieder gibt der Film sich ganz dem Spaß am Genre hin. Ein Glücksfall. (Kinostart: 18.07.2024.)

DER PANTHER (Jan Bonny, D 2024)

Das rare Beispiel einer echten Dreistigkeit im deutschen Kino. Bonny und die Titelfigur „Johnny“ – gespielt von Lars Eidinger, den ich noch nie so gut gesehen habe – scheinen sich gegenseitig anzustacheln, sind Sparringspartner in dieser erschreckenden und schön riskanten Schlachtplatte, die auf einem wahren Fall basiert (oder sich zumindest daran entzündet hat). Solche „unentschuldbaren“ Charaktere, die ihr Umfeld - und uns - verlegen machen und zum Bekenntnis zwingen, gespielt von Schauspielern, die sich nicht selber richten, die nicht dauernd „Sorry” sagen und in Richtung Publikum blinzeln, sind in der deutschen Kino- und Fernsehbürokratie quasi nicht vorgesehen; um so schöner, dass der Film in der kurzen Morgenluft der Streaming Wars entstehen konnte und jetzt die Hand aus dem frischen Grab von Paramount+ hervorstreckt. Wir sollten sie ergreifen!


(Ich hoffe sehr auf ein Double Feature mit VERBRANNTE ERDE, im Kino, als zwei faszinierend gegensätzlichen Spielarten des Gangsterfilms, die – zusammen mit dem schönen SCHOCK von Daniel Rakete Siegel & Denis Moschitto – beinahe so etwas wie eine Gangster-Dämmerung im deutschen Film darstellen.)


THE ZONE OF INTEREST (Jonathan Glazer, UK 2023)

Ein Film über die entmenschlichende Aufspaltung der Welt in berührungslose Sphären. Jonathan Glazer hat eine schlüssige Form gefunden für die moderne Abstraktion des Massenmords. Der Horror heißt Kontext. Der Film erzählt, einerseits, von den Banalitäten eines Täterlebens, des Lagerkommandanten Höß und seiner Familie in Auschwitz, ohne eindeutige Angebote der Identifikation, ohne klassische Mittel der Subjektivierung. Ein Haus, ein Garten, eine Mauer – und kein Blick ins Jenseits dieser Mauer. Die Bildpolitik des Films ist vielleicht manchmal zu sehr „Klinik”, die der Welt perfekte Präparate abringen möchte, auch wenn das Leben eben wuchert. Aber die Klarheit, die so möglich wird, bedeutet, dass man das „Modell” drehen und wenden kann. Die Praxis des Mordens in Auschwitz wird, andererseits, verlagert in einen „B-Film”, der nur aus Tönen besteht, und den wir uns komplementär zum häuslichen Idyll, komplettierend, vorstellen müssen. Diese sozusagen auf Schienen geführte, audio-visuelle Schizophrenie antwortet auf die bekannten Repräsentationsprobleme, und auch wenn sie für mich (beim ersten Sehen) unter „Originalitätsverdacht” stand, habe ich dem Film vertrauen können. Interessant sind die Ausnahmen, die sich Glazer eben dann doch erlaubt: das Rot der Blume, die die Leinwand flutet, Höß, der aus „Hänsel und Gretel” vorliest, ein Mädchen, das – gefilmt mit Wärmebildkameras – für die KZ-Häftlinge Äpfel versteckt und ein Notenblatt der Hoffnung rettet.

11 März, 2024

(Wieder-) Gesehen [20]

Gothic Romance: Untote Männer & Tote Frauen 

„Aus Gründen” ist die Filmgeschichte randvoll mit untoten Männern und toten Frauen. Man könnte meinen, weil die Männer nicht leben können – nicht leben können ohne ihre lebensfeindlichen Fiktionen –, und die Frauen die Fiktionen der Männer als Zwangsvorstellung sichtbar werden lassen. Deshalb müssen sie (viel zu oft) sterben, um dann verehrt und ins Gespinst gewoben werden zu können.

FALBALAS (Jacques Becker, F 1944)


Jemanden anziehen, verpuppen, verwandeln, Männer, die Frauen einnähen, in ihre Vorstellung, in ihr Nervenkostüm und – in diesem Fall – selbst daran zugrunde gehen. Ein großer Mode- und Horrorfilm, verblüffender Weise während der deutschen Besatzung gedreht.



THE PORTRAIT OF JENNY (William Dieterle, USA 1948)


Ein Künstler in der Krise, einer, der ohne das geeignete Modell nicht (an sich) glauben kann, und dann quer zur Zeit, mit Hilfe einer (Un-) Toten, die sich in der Gegenwart verirrt hat, seinen Glauben wieder findet. Der Film wird im Verlauf immer wahnhafter, erotisiert die Kindfrau Jenny auf problematische Weise (zu dieser Zeit quasi ein Rollenfach der Schauspielerin Jennifer Jones, obschon in ihren späten 20ern), gerät aber bald so stark in ästhetische Seenot, dass das Unbewusste des Films faszinierend direkt an die Oberfläche gespült wird.


VERTIGO (Alfred Hitchcock, USA 1958)


Ein Film eben auch über die Regie als eine Form der Aneignung des Lebendigen, und der Eifersucht, die es auslöst, wenn die Wirklichkeit ihr Recht fordert. 



PHANTOM THREAD (Paul Thomas Anderson, USA 2017)


Wirkt beinahe wie der Versuch, FALBALAS und VERTIGO zu verschmelzen. Das hat etwas Unzeitgemässes, aber womöglich wirkt das von „Alma” (Vicky Krieps) verabreichte (Gegen-) Gift auch gegen diese Anmaßung.



KURONEKO (Kaneto Shindō, Japan 1968)

Interessantes Kontrastprogramm zu den genannten Filmen oben: Ein beinahe (?) feministischer Geisterfilm, mit scharfen Krallen. Zwei Frauen, Yone und ihre Schwiegertochter Shige, werden zum Opfer marodierender Soldaten in Japans Feudalzeit. Die gegen sie verübte sexuelle Gewalt mit tödlichem Ausgang ist Auftakt für ein Nachleben als Rächerinnen. Sie locken vom Krieg verrohte, lüsternde Männer in ihr Waldhaus, bewirten und töten sie – selten habe ich Vergeltung im Kino als so befriedigend erlebt. Eines Tages kehrt Yones Sohn, Shiges Mann zurück. Die Frauen stehen vor einem Dilemma: Zwar sind sie glücklich, den totgeglaubten Ehemann und Sohn wiederzusehen, aber sie haben sich dem Katzendämon verpflichtet...