30 April, 2024

Grenzgänger

Notizen zu Tankred Dorsts EISENHANS.


Etwas drückt aus der Unterwelt herauf, zerbricht den rationalen Fliesenboden der Bundesrepublik. Die Vergangenheiten wollen fließen, dürfen nicht, aber der Mythos ist stärker, unterspült den Alltag. Vielleicht ist das die Klage des Films: dass die Sphären nicht zu versöhnen sind. Schon der Übertritt ist konfliktreich. Es braucht unbändige Kraft, zwischen den Welten zu wandeln. Selbst Hans „Eisenhans“ Schroth (Gerhard Olschewski) ist nicht stark genug. 

Dabei gab es eine Zeit, in der er, mit schierer Kraft, soziale Schranken überwinden konnte. Aber die Verhältnisse haben sich geändert. Die körperliche Stärke ist überflüssig geworden, das üppige Muskelfleisch, das er auf den Rippen hat, provoziert Abwehr und Verdacht, zunehmend auch bei seinem Jugendfreund Feininger (Hans Michael Rehberg), Besitzer der örtlichen Brauerei und sein Arbeitgeber, und dessen neuer Partnerin Ingrid (Angelika Milster).

„Die Leute reden immer.” sagt Schroths Frau (Hannelore Hoger), als man sie mit den Vorwürfen konfrontiert. „Wer lebt, stört” könnte man in Klammern setzen, das trotzige Motto des Autorenduos Tankred Dorst und Ursula Ehler. Das Gerede der Leute dreht sich um die, die anders ist: Marga (Susanne Lothar), die stehen- oder zurückgebliebene Tochter. Die Zurückweisung kränkt ihren Vater, trifft ihn ins Herz. Für ihn ist sie verzaubert, eine Prinzessin, „mit Diadem”. Herrscherin über das Zwischenreich? Der Film scheint anzudeuten, dass sie die Einzige ist, die sich zwischen Mythos und Alltag bewegen kann. Wenn die jungen Männer nicht mit ihr tanzen wollen, tut es ihr Vater. Und weil es nicht beim Tanzen bleibt, reden die Leute.

Eine Inzest-Geschichte? Auch. Es geht um die Grenze, als eine schwärende Wunde. Zwischen Deutschland und Deutschland. Zwischen Blutsverwandten. Wäre es nicht natürlicher, sie einzureissen? Warum müsste man sie sonst bewachen? Es geht darum, was es heißt, stark zu sein. In einer faszinierenden Bilderfindung verwandeln sich Eisenhans und Tochter einmal in einen Riesen, einen Rübezahl. Sie sitzt auf seinen Schultern, der Rock hängt ihm über das Gesicht, ihre Arme führen den Stock. Vater und Tochter sind zu einer Monstrosität verwachsen.

Der Film ist überhaupt reich an expressiven Einfällen. Als Eisenhans und seine Tochter blödelnd (und, wie der Rest des Films, in schwarzweiß) ums Dorf ziehen, leuchten die Fernseher in den Stuben in Farbe. Die Unterhaltung der Dörfler ist Unterbrechung, Traum. Chorus-Girls und Zirkuspferde in rot beleuchteter Manege, reine Künstlichkeit. Nicht nur wenn Eisenhans seiner Marga die Leiche im Wasser zeigt, grüßt THE NIGHT OF THE HUNTER herüber. Dorst und Jürgen Jürges an der Kamera ziehen alle Register. Gelegentlich kommen als Splitter des Möglichen, wenige Frames lang, unbewegte Fotografien ins Spiel. Dann wieder sehen wir Marga als Engel durch den Schnee ziehen.

Sie ist aber auch in der hiesigen Welt kein hilfloses Opfer. Der Film zeigt sie als eine, die selbstbewusst mit ihrer erwachenden Sexualität spielt. Dass die Männer, darunter der lüsternde, mit seiner Lebensuntüchtigkeit seltsam prahlende Gnom „Habek” (Michael Habeck), oder der Möbelvertreter (Dieter Augustin) Interesse zeigen an ihrem Dreieck, scheint ihr zu gefallen. Aber immer ist da das Unbehagen, zu was die Männer, die Menschen fähig sind, wenn sie einmal „ungehalten“ sind.

Auch Eisenhans gerät bald ins Zwielicht. Die Kraft spukt in ihm; weil die Welt nicht willig ist, braucht er Gewalt. Gegen die Couch-Garnitur, mit der seine Frau Anschluss finden will an die Moderne. Und gegen seine Frau, die sich gegen ihn verbarrikadieren muss. Gegen den Gartenzaun, der ihn von Feiningers Hochzeitfeier trennt und zu der er zu seiner Enttäuschung nicht eingeladen wurde (eine Lieblingsszene). Und gegen und für Marga, die Grenzen verwischend. Es ist die Geschichte eines Zerfalls. Immer wieder bricht etwas. „An diesem Schnittrand unseres Landes bröckeln die Häuser ab, knicken die Bäume ein, zerfallen die Straßen wie am Ende der Zeit.” (Dorst)


EISENHANS hat 1983 in der Quinzaine in Cannes Premiere gefeiert, sowohl Gerhard Olschewski als auch Susanne Lothar haben für ihre Darstellung den deutschen Filmpreis gewonnen, aber der Film hat nie die Sichtbarkeit erreicht, die ihm meiner Meinung nach zusteht. Er ist bis heute nicht auf DVD/BluRay oder Stream erschienen oder sonst irgendwie legal verfügbar – ein großes Versäumnis, denn die verwunschenen Bilder und Erfindungen des Films fehlen dem Gedächtnis des deutschen Kinos.

25 April, 2024

(Anti-) Thesen zum deutschen Kino


Ja, das deutsche Kino hat sich von „Arisierung“, Vernichtung und Krieg nie mehr ganz erholt. Nein, um die ins Exil Gezwungenen wurde nach dem Krieg nicht geworben. Auch eine Geste der Wiedergutmachung gab es von Seiten der deutschen Filmindustrie nie. 

Nein, auch die wenigen Filme der Rückkehrer waren nicht willkommen. Ja, die meisten Naziregisseure konnten ihre Karrieren nahtlos fortsetzen, darunter auch Veit Harlan, Regisseur von JUD SÜSS

Der Nachkriegsfilm kannte Höhen und Tiefen, aber anders als im Weimarer Kino oder in den USA und Frankreich waren die künstlerischen Höhen kaum mehr deckungsgleich mit den kommerziellen. 

Nein, in den 1950ern gab es nicht nur „Heimatfilme“, und durchaus nicht alle Filme dieses Genres waren schlecht. 

Nein, das DEFA-Kino musste sich nicht hinter der West-Produktion verstecken. Ja, es stimmt leider, dass in der DDR nie bessere Filme gemacht wurden, als die, die man verboten hat. Trotzdem ist der DEFA-Durchschnittsfilm eher besser als schlechter als die Durchschnittsware aus dem Westen gewesen. Ja, das hat mit Handwerk und Studiosystem zu tun. 

Nein, die Oberhausener haben „Papas Kino“, den kommerziellen (west-) deutschen Film, nicht umgebracht. Eher haben sie seinen Tod festgestellt. Nein, die Oberhausener haben mit Verkündung des Manifests nicht die Macht ergriffen. Die Karrieren der allermeisten Unterzeichner blieben marginal. 

Nein, die politique des auteurs hat mit dem deutschen Autorenfilm, der Personalunion von Drehbuch und Regie, nichts zu tun. Das war einfach nur billiger. 

Nein, das Genrekino war den Protagonisten des „Jungen Deutschen Films“ nicht fremd. Im Gegenteil gab es zahlreiche Versuche, von Schlöndorff bis Herzog, von Geissendörfer bis Fassbinder. Eher war die Publikumsbasis dieser Tradition verloren oder ins Fernsehen abgewandert. 

Nein, das Kino der „Münchner Gruppe“ (oder von Roland Klick) wurde nicht von Kluge & Co verhindert. Nein, ein Kino, das sich als kommerziell versteht, aber nicht zum Publikum findet, braucht keine Feinde. 

Nein, der deutsche Autorenfilm ist nicht an „Onanie“ gescheitert. Er wurde zum Zeitpunkt seines größten Erfolges durch filmpolitische Weichenstellungen („geistig moralische Wende“, Einführung des Privatfernsehens) abmoderiert. 

Nein, die Tatsache, dass die (im internationalen Vergleich) vielen deutschen Regisseurinnen dieser Zeit noch schneller in der Versenkung verschwunden sind, hatte nichts mit der Qualität ihrer Filme zu tun, sondern mit sexistischen Strukturen, die bis heute nachwirken. 

Ja, Syberberg wurde ausgelacht für seine Forderung, die DEFA zu erhalten und dafür eine Berliner Oper zu schließen. Nein, die ostdeutschen Regisseure waren nicht willkommen im wiedervereinigten Deutschland. Ja, sie wurden mit wenigen Ausnahmen ins Aus gedrängt. 

Nein, in den 90er Jahren gab es nicht nur Komödien. Nein, nicht alle Komödien waren schlecht. 

Nein, die „Berliner Schule“ ist kein Verein, keine feste Gruppe, keine stilistische Verabredung, sondern ein Etikett der Filmkritik. Ja, auch deshalb ist es sinnlos, sie zu hassen. 

Nein, die Oscars und Beinahe-Oscars sind kein Zeichen einer Besserung. 

Nein, Kino ist kein Entweder-Oder. 

Ja, der deutsche Film ist immer in der Krise. Weil wir immer wieder reinen Tisch machen? 

Nein, das Glas ist halbvoll.

21 April, 2024

Im Rückspiegel


Wenn ein Film fertig ist, bin ich in Gedanken beim nächsten Projekt. Ich schaue nicht gerne zurück, will nichts bereuen, nicht zu viel darüber nachdenken, was man anders hätte machen sollen. Jeder Film hat ein Datum und zu jedem anderen Zeitpunkt hätte der Film anders ausgesehen: Dieses Mantra stellt den Zweifel still.

Ich sehe mir meine Filme nach Fertigstellung nicht wieder an, weil ich sie bis dahin hundertmal gesehen habe, während des Schnitts, im Sounddesign, in der Mischung. Aber vielleicht ja auch deshalb nicht, weil ich an eine Entwicklung glauben will. Die Illusion, man könnte von Film zu Film wie auf einer Stufenleiter gehen, höher, weiter, näher ans Licht, hilft mir am Morgen aufzustehen.


Als UNTER DIR DIE STADT zu Gast war bei „Frankfurt schaut einen Film” – acht Frankfurter Kinos zeigten den Film am 17. März 2024  – habe ich eine Ausnahme gemacht. Ich hatte ihn seit seiner Premiere in Cannes 2010 nicht wiedergesehen.


Um gleich Farbe zu bekennen: es war schön. Weil der Film schön ist. So klar hatte ich das damals nicht erkennen können. Mein Blick war nicht mehr verstellt von den Plänen, dem Wissen um bestimmte Widerstände, den Phantomschmerzen in Bezug auf gestrichene Szenen. An diesem Vormittag endlich sah ich mehr als die Summe der Teile, und ich bin dankbar für diese Erfahrung.


Mich hat überrascht, wie ambitioniert die Erzählung ist – und wie vielen ihrer Ambitionen sie gerecht wird. Nein, natürlich nicht allen. Damals hatte ich enttäuscht geschrieben: „Jeder Film die Ruine seiner Ambition.” Aber so wie die Skizze oft mehr verspricht als das Gemälde …so ergänzen wir die Ruine zu einer größeren Vergangenheit gewissermaßen. 


Es ist nicht leicht, seinem jüngeren Ich ins Auge zu sehen, aber falls man dem Blick standhalten kann, erkennt man Unterschiede. Ich bin erschrocken über das Selbstvertrauen von damals. Womöglich bin ich heute empfindlicher für Einwände, für Wünsche eines Publikums? Vielleicht ist das Fell fünfzehn Jahre später nicht mehr so dick? Jedenfalls habe ich Lust bekommen, in den nächsten Filmen mehr zu wagen, im Sinne eines Kinos, das neu ist, namenlos, und gefährlich für den Status Quo.

09 April, 2024

„Bis ans Ende der Nacht” @ MUBI



Meinen Film BIS ANS ENDE DER NACHT kann man ab 12.04.2024 auf MUBI streamen.

Daniel Kasman schrieb in seinem Berlinale-Bericht auf MUBI Notebook:

„Compellingly dense in story and style, it also has a tight-fisted atmosphere created by the gorgeous, gray-shaded, and layered cinematography. This is a reminder of what a cinema-steeped director like Hochhäusler (...) can do: You can't but feel the norms of cinema being tweaked and torqued under his sharp gaze.”