13 Dezember, 2021

Die Bartelheimerin


Gestern träumte mir, ich säße in einem perfekten Kreis, mit hundert Anderen. Ich stand auf und hielt eine Trauerrede – auf meine Deutschlehrerin. Das Publikum war seltsam „hörig”; bald war ich selbst so bewegt, dass ich mit tränennassem Gesicht erwachte. Ich nahm mir vor, die Ansprache am nächsten Morgen aufzuschreiben und schlief wieder ein. Nun ist die Rekonstruktion von Träumen bekanntermaßen schwierig, aber ungefähr das Folgende könnte ich gesagt haben:

Das silbergraue Haar trug sie in kunstvoller Unordnung, wie hohen Wellengang, von Haarspray gefroren. Auf der Nasenspitze eine Halbbrille, von einem Kettchen gesichert, ein weißes Herrenhemd, elegante Hosen, glänzende Schuhe mit Absatz. Ihre Stimme war federnd-bestimmt, und konnte schneidend werden, wenn sie ihren Anspruch gefährdet sah von den Niederungen des Alltags. Mir gefiel ihr hoher Ton, ihre Unbedingtheit, die Verachtung für Faulheit im Denken. Auch ihr Witz war anspruchsvoll: Oft verstand ich die Pointen erst auf dem Nachhauseweg, ihr heiseres, beinahe tonloses Lachen noch im Ohr.


Sie entführte uns in das Reich der Sprache, las uns vor, gerne Thomas Mann, dessen „raunenden Konjunktiv“ sie liebte. Durch sie habe ich die Freude am Schreiben entdeckt. Einmal begann ich einen Aufsatz mit dem Ausruf „Oh, wie biegsam ist des Menschen' Maß!“ (oder ähnlich) und war mir sicher, den Bogen überspannt zu haben. Aber ihre Reaktion auf mein hohes Traben war wohlwollend, ermutigend. Sie wies mich auf Inkonsistenzen hin, aber gab mir eine gute Note. Und es schien ihr etwas zu bedeuten, wenn sich mir ein Text, den wir zu lesen hatten, nicht offenbarte – so dass ich mich verpflichtet fühlte, möglichst genau zu formulieren, warum. Wilhelm Raabes „Stopfkuchen” etwa quälte mich, und ich erinnere mich heute besser an meine Argumentationskette als an den Roman selbst. Auf der anderen Seite liebte sie es, uns für ein Buch brennen zu sehen. Mein vielleicht größtes Erlebnis damals war Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge”, dessen dichte schwebende Sprache für mich bis heute Vorbild ist. Ohne sie wäre ich nicht darauf gekommen, es zu lesen.


Es war die große Zeit von Dieter Dorn an den Münchener Kammerspielen, und wir waren dabei, entwickelten ein regelrechtes Premierenfieber. Gisela Stein haben wir bewundert, in „Glückliche Tage” von Beckett zum Beispiel, oder Rolf Boysen in „King Lear”. Hans Lietzaus Inszenierung von Barlachs „Der blaue Boll“ hat mich begeistert. Meinen Eltern riss ich das Feuilleton aus den Händen, am nächsten Tag, um Bernd C. Suchers Kritik zu lesen. Einmal sind wir mit dem Deutsch LK nach Wien gefahren, nur um eine neue Peymann-Inszenierung zu erleben („Der Sturm”, Shakespeare). Auch Lesungen haben wir veranstaltet – für eine, „gegen Fremdenfeindlichkeit”, habe ich das Plakat entworfen, und las Hyperion an Bellarmin, „So kam ich unter die Deutschen”, Hölderlin. 


Sie fuhr ein rotes Goggomobil Cabrio, rauchte schlanke „Frauenzigaretten” und wohnte im Olympiadorf, ein schöner Ausläufer der Architekturutopien der 60er, in dem der Autoverkehr „unter Tage” war, während das „Dorf” mit sinnreich gestaffelten Terrassengärten wie ein Raumschiff wirkte, auf dem Pflanzen willkommen waren. Kurz vor Schluss, das heißt: Abitur, waren wir dort einmal mit dem Kurs zu Besuch. Ein wehmütiger Abend, an dem oft gesagt wurde, dass man bestimmt in Kontakt bleiben werde, auch wenn beide Seiten wussten, dass das unwahrscheinlich war.


Viel später, ich hatte gerade meinen zweiten Film gemacht, habe ich sie zur Münchener Premiere von FALSCHER BEKENNER eingeladen – weil ich dachte, ich hätte jetzt vielleicht etwas zu Stande gebracht, was eine Kontaktaufnahme rechtfertigt. Und sie kam. Nur nach dem Film war sie nicht mehr zu finden. Gerüchteweise ging sie, weil sie den Film nicht mochte, und auch wenn ich nicht sicher sein konnte, schmerzte es mich. Habe ich ihr damals geschrieben? Ich erinnere mich nicht mehr. Von ihr kam keine Zeile der Klärung, das weiß ich. Beim nächsten Versuch der Kontaktaufnahme erfuhr ich, dass sie gestorben war, im Januar 2013. Ihr Name war Lieselotte Bartelheimer, von uns liebevoll genannt: die Bartelheimerin. Ich hätte ihr gerne noch Danke gesagt.

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